: Der Kurzzeitbaum, Modell Bill Gates
Tips, Infos und Geschenke für alle – das Internet macht Weihnachten wieder ganz zur Familiensache ■ Von Ulrich Gutmair
Jedes Jahr das gleiche Spiel: Die Kinder zermantschen Monster auf ihren Nintendo-Konsolen, Opa will endlich seine Musik hören, und die Eltern hängen vor der Glotze ab. Ist das noch Familienleben? Die Keimzelle der Gesellschaft wird langsam in ihre Atome zerlegt, und das Weihnachtsfest, eines der Kernbestände der abendländischen Kultur, bietet ein Bild des Jammers.
Wie gut, daß es Weihnachten jetzt auch im Internet gibt. Entgegen aller Behauptungen, hier würde jeder für sich allein seinen Vergnügungen nachgehen, ist das Weihnachtesfest im Netz die letzte Gelegenheit, das Fest im Kreis der Lieben gemeinsam zu verbringen.
Vor dem Bildschirm drängelt sich die Familie wie weiland vor dem Wintersonnwendfeuer, denn die Internetweihnacht hat für alle und jeden was zu bieten. Ungeduldigen Kindern sei die Homepage von Christmas.Com, laut Untertitel „Santa Klausens Domäne im Web“, empfohlen (http://christmas.com).
Hier kann man sich jederzeit darüber informieren, wie viele Monate, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Heiligen Abend noch mit Warten und Rumhängen zu verbringen sind. Zwischendurch kann man natürlich immer wieder schnell mal eine E-Mail an Santa Claus schicken, wenn's allzu langweilig wird. Auf Santas Domäne im Web gibt es aber eigentlich genug zu erleben und zu lernen.
Ganz dem internationalistischen Charakter der Mutter aller Netze verpflichtet, wird hier Aufklärung über Weihnachtsbräuche in aller Welt betrieben. Darunter finden sich auch Feste, die als Antworten auf das eurozentristische Weihnachtstreiben konzipiert worden sind, wie das afroamerikanische Kwanzaafest.
Kwanzaa bedeutet die „ersten Früchte der Ernte“ und wurde 1966 nach intensivem Studium afrikanischer Bräuche von Dr. Maulana Karenga ins Leben gerufen. Das Fest, das am 26. Dezember beginnt und insgesamt sieben Tage dauert, soll Afroamerikanern ermöglichen, die eigene Kultur als Produkt zweier Welten zu begreifen und zu feiern. Siehe da, plötzlich hat Weihnachten wieder Sinn.
Ganz traditionell amerikanisch geht's an anderen Plätzen zu, diverse Weihnachtsgeschichten der Art, wie man sie aus Lokalzeitungen kennt, warten nur darauf, ins Heim heruntergeladen zu werden. Auf der „Homepage for the Holidays“ kann sich Papa die Weihnachtsgeschichte für die Kleinen maßschneidern lassen, sponsored by Toys'R'Us. Gibt man Namen, Wetterlage, und Geschenk ein, spuckt der Drucker kurze Zeit später eine persönliche Geschichte aus, die man dann direkt unterm Baum vortragen kann (http:// www.merry-christmas.com). Zur weiteren Beschäftigung des Nachwuchses bieten sich hier Malbilder mit verschiedenen Motiven an. Anweisung ans Kind: bunt malen, Nikolaus liebt Farben.
Natürlich ist Weihnachten grade im Netz kein christliches Fest mehr, sondern vor allem ein grün-rotes Segment amerikanischer Popkultur. Grün und Rot sind die Farben von Santa Claus, der neben obligatorischen Hinweisen auf sinnvolle Geschenke wie Notebooks, Neuwagen und Boom Box für den Teenager omnipräsent ist.
Und wer nichts Besseres zu tun hat, kann sich das tiefe „Ho, ho, ho“ des bärtigen Manns vom Nordpol als Sound herunterladen und sich einfach nur amüsieren.
Das Geschenkechaos hat endlich ein Ende
Auf den Weihnachtsseiten von www.town.hall.org kann die Familie einen digitalen Christbaum dekorieren. Mit im Angebot der Bill- Gates-Baum, der sich – angeklickt – als recht banale Parkpflanze entpuppt. „Der Bill Gates“, heißt es im Begleittext, „erscheint viel beeindruckender, als er wirklich ist, aber wer nach einem netten Kurzzeitbaum sucht, der viel kostet, ist damit bestens bedient.“ Modell Gates kann jetzt mit digitaler Deko verziert werden. Weihnachten im Netz wäre nichts, wenn es nicht auch spezielle Xmas-Shareware geben würde, die einem das harte Weihnachtsdasein in der wirklichen Welt erleichtert. Mit Christmas Time 2.02 hat das Chaos unterm Baum ein Ende, der Strom von Weihnachtskarten und Geschenken kann kanalisiert, geordnet und katalogisiert werden, auf daß man nicht vergißt, wem noch rasch eine Danke!-Karte mit Neujahrswünschen zu schicken ist.
Wie gewohnt sind Englischkenntnisse in der Internetweihnacht Grundvoraussetzung, da Europa sich anscheinend erst noch dran gewöhnen muß, den vom Funkeln der Christbaumkugeln gebannten Blick auf die Bildschirme zu richten.
Doch eines ist allen Weihnachtsfesten überall gemeinsam, sie sind sehr anstrengend. Beruhigend für die Hausfrau daher das Netzangebot mit Informationen zu möglichen Revitalisierungsmaßnahmen, Kurztitel: „Women's Health Tips/Coping With Stress“.
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