Die Rückkehr der gemütlichen Riesen

Immer häufiger wandern Elche von Polen nach Brandenburg ein. Umweltschützer wollen sie wieder im Berliner Umland ansiedeln, Naturschützer erhoffen sich von ihnen Hilfe bei der Renaturierung von Truppenübungs- plätzen. Auf der Pirsch war  ■ Bernhard Pötter

Bauer Klemm traute seinen Augen nicht: Auf seiner Weide im brandenburgischen Niewisch, 50 Kilometer südöstlich von Berlin, stand ein Elch und schnupperte an seinen Kühen. Das große Jungtier verschwand erst im Wald, als Klemm sich ihm bis auf 10 Meter genähert hatte. „Wir waren überrascht“, meinten Klemm und seine Nachbarn. Was da in der Abenddämmerung auf seiner Wiese stand, war ohne Zweifel ein Elch: schließlich war mit Ralf Müller auch der Förster des Dorfes unter den Neugierigen. Und der identifizierte das fremde Tier eindeutig als Exemplar der Spezies Alces Alces.

Zwei Wochen später sichtete eine Polizeistreife den nächsten Elch kurz vor Potsdam. Zwischen Eisenbahnstrecke und Autobahn sei das „ausgewachsene Tier“ in der Morgendämmerung plötzlich auf die Straße eingebogen. Die verblüfften Polizisten, die laut Polizeibericht zuerst an eine „Täuschung“ glaubten, überzeugten sich von der Echtheit des Tieres, als dieses auf der Straße vor ihnen hertrabte und unbeeindruckt von der Staatsgewalt im Wald verschwand.

Solche Begegnungen mit einem Vertreter der größten Hirschart der Erde werden im Berliner Umland in Zukunft immer wahrscheinlicher. Denn die Elche, den Deutschen sonst nur aus dem Skandinavien-Urlaub oder aus dem Ikea-Katalog bekannt, wandern vermehrt von Polen nach Brandenburg ein. Anders als Wölfe, Bären oder Luchse, die es ebenfalls in den Westen zieht (siehe Kasten), können die gemütlichen Pflanzenfresser ihren Zug nach Westen schon wegen ihrer Schulterhöhe von bis zu zwei Metern schwer verheimlichen. Insgesamt etwa 50 Elch-Wanderungen von Polen nach Deutschland haben Forstexperten in den letzten Jahren gezählt. Der Ausbruch nach Westen endete bisher oft vor der Flinte der Förster oder der Stoßstange eines Autos – doch nach der Maueröffnung und der Stillegung von Ackerflächen gibt es Pläne, den riesigen Tieren wieder zu Lebensräumen auch westlich der Oder zu verhelfen. Umweltschützer träumen von Reservaten, in denen das einstmals heimische Wild wie Elch, Wisent, Biber und Wolf wieder zusammenlebt. Und Naturschützer hoffen, mit Hilfe der Elche Teile der brachliegenden Truppenübungsplätze vom Wald freizuhalten, um so mehr Niederschläge in das bedrohte Brandenburger Grundwasser versickern zu lassen.

Die Tiere suchen ihr Heil im Westen, weil ihnen zu Hause der Platz langsam knapp wird: In Polen sind die Elchbestände in den letzten Jahren auf etwa 6.000 Tiere angewachsen. Wenn die jungen Bullen nach zwei Jahren von den Platzhirschen vertrieben werden, wandern sie aus ihrer Heimat aus, um sich die Hörner abzustoßen. Beim „go west“ ist die Oder für die geübten Schwimmer, die bis zu 20 Kilometer schwimmen und bis zu einer Minute tauchen können, kein Hindernis.

Auf deutschem Boden war aber bislang Endstation: Zu DDR-Zeiten wurden die Grenzverletzer unbarmherzig abgeschossen, berichten Förster – allein aus den achtziger Jahren sind 20 solcher Fälle aktenkundig. Denn der Elch galt als Schädling, weil er in den Kiefernschonungen das junge Grün abfraß. Und außerdem, meint Förster Müller aus Niewisch und mit ihm viele Kollegen auch heute noch, „gehört der Elch einfach nicht hierher“.

Da ist Reinhold Hofmann ganz anderer Meinung. „Der Elch ist einmal ein integraler Bestandteil der Großtierfauna hier in dieser Gegend gewesen“, meint er. Das allerdings war vor knapp 1.000 Jahren, räumt Hofmann, Professor und Leiter des Berliner „Instituts für Zoo- und Wildtierforschung“ ein. Als damals die Auwälder und Moore den Äckern der vorrückenden Zivilisation Platz machten, wurde auch der Elch aus der Gegend vertrieben. Nur in Ostpreußen überlebten die Pflanzenfresser in freier Wildbahn. Hermann Göring siedelte in der Schorfheide Elche als Jagdwild für Nazi- Größen an, doch die Tiere überlebten das Kriegsende nicht. Mit dem Niedergang der großen Agrarflächen im menschenleeren Brandenburg kommt jetzt in Hofmanns Augen eine zweite Chance für die Elche: „In Brandenburg gibt es durchschnittlich 28 Bewohner pro Quadratkilometer, soviel wie in Schweden.“

Hofmann hat große Pläne: „Für 20 bis 30 Tiere, angesiedelt in Gegenden wie den Renaturierungsgebieten in der Lausitz, der Tangersdorfer Heide oder dem Lüchener Seengebiet, wäre hier allemal Platz.“ Zusammen mit anderen Wildtieren wären die Elche eine Bereicherung für die heimische Fauna. Bei behutsamer Aussiedlung der großen Tiere könne man in 20 bis 30 Jahren soweit sein, daß die Tiere sich ohne Hilfe zurechtfänden und auch ihre Umgebung sich an die Rückkehr der gemütlichen Riesen gewöhnt hat.

Im Brandenburger Umweltministerium ist man zurückhaltend. Zwar darf der Elch nicht gejagt werden, doch an eine aktive Ansiedlung will man nicht denken. Eine offizielle Statistik über Elchbesuche aus Polen gibt es ebensowenig wie Auskünfte über den weiteren Aufenthalt der Wanderer. „Wir wissen nicht, wo die bleiben“, heißt es. Viele der jungen Bullen kehrten wieder nach Polen zurück, wenn sie gemerkt hätten, daß es in deutschen Wäldern keine Elchkühe gebe, meint Hofmann. Andere dagegen ziehen weiter nach Westen: einzelne Exemplare wurden nach Angaben der Zeitschrift Grünstift bereits am Rhein gesichtet.

Bedenken hat man im Potsdamer Umweltministerium vor allem wegen möglicher schwerer Unfälle bei einer Kollision von Elch und Auto, wie sie aus Skandinavien berichtet werden. Kein Problem, meint Hofmann, für die Elche könnte man Zäune und Straßenquerungen einrichten, schließlich sei in Brandenburg ja auch zum Schutz der Großtrappen, einer Vogelart, eine Autobahnplanung verändert worden. Auch die Angst vor dem Bedarf an „riesigen Lebensräumen“ für die Elche, die meist als Einzelgänger leben, nennt er „ein Märchen“: Weite Strecken lege der bis zu 55 Stundenkilometer schnelle Pflanzenfresser nur zurück, wenn die Lebensbedingungen schlecht seien: „Auf einem Truppenübungsplatz im Norden Brandenburgs gibt es ein einziges kleines Tal mit einem See, in dem problemlos drei bis vier Elche leben könnten.“

Interessiert an einer Ansiedlung von Großwild sind allerdings die Umweltschützer vom Brandenburger Landesumweltamt. Ihr Problem: Als Hinterlassenschaft der ruhmreichen Roten Armee und der Nationalen Volksarmee haben sie Truppenübungsplätze zu verwalten. Acht Prozent der Landesfläche besteht aus diesen teilweise mehrere tausend Hektar großen Gebieten, wo die Säuberung des Bodens von Munition und Altlasten Milliarden verschlingen würde, die weder der Bund noch das Land Brandenburg in absehbarer Zukunft aufbringen können. Ein Zaun drum, ein paar Elche, Wisente und Hirsche auf den Platz, „das ist das Beste und Billigste, was wir uns wünschen können“, heißt es. Denn da die Tiere als „Landschaftsgestalter“ die jungen Bäume kurz halten, sorgen sie für freie Flächen. Auf denen wiederum, so die Hoffnung der Umweltschützer, könnte der Regen des niederschlagärmsten Bundeslandes Brandenburg versickern und die Grundwasserreserven auffüllen. „Tun wir das nicht, gibt es in der Region Berlin-Brandenburg mittelfristig Probleme mit dem Grundwasser“, heißt es aus der Behörde, die ihre Pläne allerdings mit anderen Ressorts und Lobbygruppen abstimmen muß.

Denn um die Truppenübungsplätze herrscht zur Zeit heftiges Tauziehen. Die Jagdvereine möchten dort gern Rotwild für die Jagd aussetzen, Förster wollen wieder Bäume pflanzen, um ihre Arbeitsplätze im Wald zu sichern. Und immer noch liegt überall Munition herum. Das allerdings sei kein Hindernis für einen Wildpark, meinen die Umweltschützer. Die Tiere seien kaum gefährdet, und die Besucher müßten sich ohnehin an geräumte und eingezäunte Wege halten. Auch auf den Lausitzer Renaturierungsflächen im ehemaligen Braunkohlerevier sei die Errichtung von Wildparks „mindestens genausogut“ wie die geplanten Maßnahmen der Renaturierung per Hand, die als gigantische Arbeitsbeschaffung „Abermillionen“ kosteten und deren Erfolg zweifelhaft sei. Die Abneigung vieler Forstwirte gegen die Elche ist für Hofmann auch die „Angst vor großen Tieren“. Er kämpft gegen das Vorurteil, die Tiere schädigten den Waldbestand. Das geschehe nur deshalb, weil der Mensch aus dem deutschen Mischwald einen reinen schnellwachsenden Kiefernwald gemacht hat. „Und da fehlen Birken, von denen sich der Elch viel lieber ernährt. Also geht er an die Kiefern.“ Heute propagiere die offizielle Forstpolitik aber den „wildreinen Wald“, in dem Tiere nur die Holzwirtschaft störten. „Wir beklagen uns immer über das Aussterben von Tierarten in fernen Ländern“, meint Hofmann, der als Zoologe zehn Jahre in Afrika gelebt hat. „Dabei sehen wir nicht, daß dort teilweise die Konkurrenz um Lebensraum zwischen Mensch und Tier extrem hart ist. Wenn dort Elefanten in einer Nacht die Lebensgrundlagen von 600 Menschen zerstören, wird man diese kaum zum Schutz der Tiere bringen können.“ Wenn es dagegen in Mitteleuropa die Chance gebe, einer hier ausgestorbenen Tierart wieder auf die Beine zu helfen, müsse man sie nutzen. „Wir müssen uns fragen, was wir mit den ganzen Brachflächen anfangen wollen“, meint der Anwalt der Elche. „Brauchen wir wirklich immer noch mehr Golfplätze?“