Kind ist, wer keins hat

■ „Wenigstens Weihnachten kannst du nach Hause kommen“

Jetzt sind sie wieder unterwegs, die kinderlosen Heimatlosen. Vom Norden in den Süden, vom Süden in den Norden, von Ost nach West und umgekehrt. Paare jeglicher Couleur, frisch verknallt oder seit Menschengedenken liiert – sie werden in diesen Tagen, die genügend Ruhe versprechen, um endlich das Essen-zu-zweit zu zweit zu essen, hemmungslos getrennt auf Reise geschickt.

Dann dümpeln ausgebaute Designerdachgeschosse über Weihnachten ebenso einsam vor sich hin wie krümelige Wohngemeinschaften und seelenlose Gemeinschaftswohnungen. Über grauen Winterstädten hallt tausendfach der elterliche Ruf aus flauschiger Provinz: „Wenigstens an Weihnachten könntest du nach Hause kommen.“

Wer diesem Ruf nicht folgt, hat Begründungsnotstand oder gehört zu den Freunden radikalen Daseins, die sich Weihnachten hartnäckig im verschlossenen Venedig, im kalten Paris oder auf obskuren Parties erarbeiten. Die anderen fahren. Verlassen ihr Zuhause. Diese Illusion, sich in mühseliger Kärrnerarbeit ein eigenes Zuhause geschaffen zu haben, wird übrigens stante pede auf den familiären Opfertisch gelegt. Von wegen „Home is where your heart is“. Home is where your Vater sitzt. Basta.

Zur Kompensation korrigiert man hier und da Kleinigkeiten am Weihnachtsritual, fühlt reichlich Samariterblut in den Adern fließen, präsentiert pädagogisch unzweideutige Geschenke („Selbständig im Alter“, „Fit for Rente“, „Mit 65 geht es richtig los“) und schlürft dann doch noch mit ein bißchen Glück die Reste jener Unschuldstage, an denen der kleine Mund überhaupt nicht mehr zugehen wollte, aufgrund des Geglitzers und der hingezauberten Geschenke. Beim Blick in die Runde fällt dann so mancher leergebliebene Sessel ins Auge, und wer vorsichtig haucht: „Das nächste Mal vielleicht bei uns?“, erhält postwendend Antwort: „Selbstverständlich. Sobald ihr Kinder habt.“

Seufzend sinken die kinderlosen Heimatlosen darnieder. Hat man den Eltern großzügigerweise den Sprung in die Großelternzeit erspart! Hat man ihnen doch dazu verholfen, jung zu bleiben! Doch wer Dank erwartet, ist falsch auf dieser Welt. Statt dessen bleibt man Kind. Kind mit 30. Kind mit 40. Kind mit 50. Aber ist ja Weihnachten. Einmal im Jahr Kind sein. Da gibt es bei Gott Schlimmeres. Und wer sich soviel Souveränität leisten kann, donnert mitternachts ein Hallehelujah ins Kirchenschiff, daß der Mutter ganz warm ums Herz wird, vor so viel holdem Knab' mit schütterem Haar. Wolfgang Hanfstein