Gut und billig

■ Das Gesundheitssystem könnte preiswerter und zugleich effektiver sein

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der ambulanten Gelenkoperationen um etwa 500 Prozent gestiegen. Doch nicht eine Knochenschwund-Epidemie ist die Ursache, sondern das ärztliche Abrechnungssystem. „Am lukrativsten ist die Operation eines Gesunden. Da gibt es keine Komplikationen, es geht schnell und man bekommt eine Fallpauschale“, erläutert Ellis Huber, Leiter der Berliner Ärztekammer. Belohnt werden im deutschen Gesundheitssystem nicht jene, die ihre PatientInnen am besten heilen, sondern solche, die den größten Behandlungsaufwand treiben – egal, ob es den Kranken nützt oder schadet.

„Das ist so, als ob man einen Zimmermann für die Zahl der Hammerschläge und nicht für den fertigen Dachstuhl bezahlt“, stellt Huber lakonisch fest. Daran wird auch die soeben beschlossene Gesundheitsreform Nummer drei nichts ändern. Denn sie zielt nur darauf ab, die PatientInnen zusätzlich zu ihren Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) noch einmal zur Kasse zu bitten. 50 Pfennig mehr Selbstbeteiligung bei Medikamenten, 25 Mark pro Kurtag, mehr Eigenanteil bei Zahnersatz: So sollen die Lohnnebenkosten konstant bleiben, wie es die Arbeitgeber fordern, die davon die Hälfte zahlen müssen.

Seit seinem Amtsantritt müht sich Gesundheitsminister Seehofer, die GKV-Kosten nicht wachsen zu lassen. Denn in den letzten Jahrzehnten sind die Beitragssätze dauernd gestiegen: Überwiesen die LohnbuchhalterInnen 1975 etwa 10,5 Prozent an die Krankenkassen, sind es jetzt etwa drei Prozent mehr. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die Gesundheitskosten allerdings seit Jahren nicht gewachsen. Im Klartext: Während eine schrumpfende Zahl von Lohnabhängigen fast die gesamte medizinische Versorgung zahlt, bleiben andere SteuerzahlerInnen davon völlig unbehelligt.

Hinzu kommt, daß der Staat den GKVs immer mehr die Finanzierung der Krankenhäuser aufhalst. Auch die kaninchenhafte Vermehrung der Ärzte geht auf Kosten der BeitragszahlerInnen: Seit 1970 hat sich ihre Zahl mehr als verdoppelt – vor allem die Zahl der Radiologen, Kardiologen, Orthopäden und anderer Spezialisten mit aufwendigen und damit kostenintensiven Diagnosegeräten wuchs exorbitant. „Heute wird weitaus mehr untersucht als früher. Zu mehr Gesundheit hat das aber nicht geführt“, meint Udo Schagen, Leiter der Forschungsstelle Zeitgeschichte der Medizin an der Freien Uni Berlin.

Seehofer hat versucht, die GKV-Ausgaben mit zwei Mitteln zu begrenzen: mehr Selbstbeteiligung der Kranken und ein Gesamtbudget für ÄrztInnen. Auch die Medikamentenmenge wurde gedeckelt. Doch damit ist zum Jahresende Schluß. Die ÄrztInnen können ab 1996 wieder ungehemmt abrechnen, während die PatientInnen bald noch mehr zuzahlen müssen. Absehbar ist, daß die GKV-Kosten wieder steigen.

Innerhalb der Ärzteschaft ist man sich zwar einig, daß ein Gespräch künftig etwas höher bewertet werden soll. Weil aber die apparateintensiven Facharztpraxen mit 60 Prozent in der Mehrheit sind, haben sie die Macht, ihre Leistungen auch künftig besonders hoch honorieren zu lassen. Eine Orientierung am Patientenbedürfnis lohnt sich dagegen weiterhin nicht. „Bei einer Fortbildung zum neuen Abrechnungssystem hat uns der Vorsitzende vom Berufsverband Orthopädie sogar zum Betrug aufgefordert“, empört sich Winfried Beck, Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Weil Spritzen mit einer Fallpauschale abgegolten werden, habe der Funktionär zum Aufschreiben von Anästhesien geraten.

„Die hohen Kosten unseres Gesundheitswesens sind Ausdruck seiner mangelnden Qualität“, meint Beck. Statt eines diagnostischen Overkills müßte die Frage im Zentrum stehen: Was braucht der Mensch? Um das herauszufinden, benötigen die ÄrztInnen vor allem Zeit. Es wäre nicht nur viel billiger, sie nach Arbeitsstunden zu entlohnen, sondern gesundheitspolitisch auch effektiver. „Wir stehen an einem Scheidepunkt: Zwei- Klassen-Medizin oder eine Revolution im Abrechnungswesen“, meint Ellies Huber. Eine Knappheit der Mittel birgt auch eine große Chance. Annette Jensen