Im Halbkreis

Letzte Worte einer unwichtigen Person  ■ Von Gabriele Goettle

Hedwig Sch. (1900 — 1989), Arbeiterin, Weißnäherin im Akkord, verheiratet, zwei Kinder, seit 1943 verwitwet, ab 1960 Rentnerin, erkrankt 1979 an Arthritis, wird von der Tochter Gerda versorgt bis zu deren Tod 1984, daraufhin Einweisung als Pflegefall in ein Siechenheim. Dort stirbt sie unbemerkt am 23.Dezember 1989.

Der folgende Monolog stammt von Mitte Dezember 1989.

Gerda? Gerda, liebe Gerda, kann ich einen Schluck Wasser haben? Nur einen Schluck Wasser, nur einen... Gerda, Wasser, bitte. O weh, ist denn da keiner? Hörst du mich, Gerda? Ich habe Durst, Durst, Durst. Bitte etwas Wasser... Und dann, das mag ich nicht mehr, hier dieses Zusammenschlafen, bitte sag' dem Hannes nur das, er soll mich hier rausholen. Ich schaffe es nicht alleine (weint)... weißt du, hier ist nämlich alles aus Eisen, der ganze... Eisenkäfig... Erst war gar keiner da, dann kamen drei Damen, die haben sich dort ins Bett gelegt, Montag vergangener Woche. Seitdem sehe ich sie nicht mehr. Sieh mal, ich bin nun für immer hier gebunden und habe keine Person an meiner Seite, keinen Menschen! Und nun muß ich kaufen gehen... Wäsche, paar Kleider, Nachthemd, das macht tausend Mark. Nun, jetzt weißt du es. Es bleibt mir nichts anderes übrig... Ich bin ja so unglücklich (weint)... Gerda, meine Gerda? Ich habe großen Hunger, ich möchte essen... und Wasser... Die anderen Tage wurde ich fein gefüttert, heute und gestern gab's gar nichts... Au, au, Hunger, das ist gemein, ich habe solchen Hunger... Durst, alles beides. Hunger und Durst. Durst aber mindestens! Und dann... auf Toilette muß ich auch noch. Ach Kind, du weißt ja noch nichts vom Leben, du bist so jung und riechst so gut... komm, komm schnell unter meine Decke, mir ist so kalt vor Hunger, ich friere... und ich bin nicht gewaschen seit drei Tagen... das riecht! Heute ist es zu ertragen, aber gestern... oh... da hat es hier gerochen... nach... nach Menschen... Kennst du das nicht? Na also! Schnell, faß mal den Rücken ein bißchen rauf... ganz rauf... au weia... oh, schön, noch weiter rauf... Das sollte alles mal gewaschen werden, der ganze Rücken und auch meine Bettwäsche, meine Leibwäsche, ein paar Handtücher und Waschlappen, aber wie soll ich das machen mit meinen Händen? Ach Gerda, liebe Gerda... mach doch mal... oder ich kann ja auch die Inge fragen, die Inge ist nicht so, sie würde mir das sicher ab und an mal mitmachen, ich könnte ihr ja auch ein Entgelt geben für die Abnutzung der Maschine... ich hab ja nicht viel Wäsche, nur die paar Nachthemden, drei Unterhosen, ein bißchen Bettwäsche, und die Strümpfe müßte man dann mit der Hand... es ist ja bald Heiligabend, und da soll doch alles schön sauber sein. Sieh mal, ich kann es ja nicht selber... Und bitte, kann ich eine Stulle haben? Nein? Schade. Aber einen Topf zum Wasserlassen brauche ich. Liebe, gute Gerda, wenn du wüßtest, wie ich mich nach dir gesehnt habe, jetzt bist du da, Gott sei Dank! (Schluchzen) Ich habe großen Hunger, ich möchte nach Hause... Ach, ein bißchen Tee, nur etwas... Allerdings, eine Stulle, die wär' mir lieber, die paßt besser für den Hunger. Nur Kekse keine! Von Keks kriegt man einen staubigen Mund. Kann ich einen Schluck Wasser haben, einen Schluck bitte. Der Mund ist trocken, alles ist trocken. Ich vertrockne hier bei lebendigem Leibe! Sieh mal, wenn du mich hier so bitten und betteln läßt, dann machst du's dir doch nur selber schwer, aber wenn du sagen würdest: Komm, meine Alte, trink ein Schlückchen, das wäre schön... Aber ganz so schön isses wieder nicht, wenn einer sagt: Komm, meine Alte... Und warum muß ich denn eigentlich im Dunkeln liegen? Das wird wohl nie mehr hell hier drinnen? Ist nu' Tag oder Nacht, was isses? Nacht, ja? Dann sei so gut, mach jetzt mal lieber Licht an, dann hab' ich's leichter und stoße mich nicht überall. Sag nur, wenn du nicht mehr weiterreden willst, du kannst mich eigentlich alleine lassen, ich komme zurecht, wenn nur Licht ist... Nun muß ich noch mal beten, habe ja schon mal gebetet, gerade, aber das wurde nicht erhört: Lieber Gott, bitte, laß mich doch hier raus auf Toilette... schnell, schnell, schnell... es drängt das Wasser im Bauch und hinten, da drängt der Schmutz... jetzt... jetzt muß ich, au wei! (lacht) Du, mach mir mal bitte mein Nachthemd auf, es ist nicht so schlimm, du kannst mir die ganz kleinen Tücher unterlegen, das reicht, oder laß mich einfach liegen so. Wie es dir lieber ist. Ich habe keine Eile. Hannes, bist du schon zurück von der Schicht? Ich hör' dich doch, komm rein und sag mir gute Nacht... oder isses Morgen? Du, darf ich mich mal ausnahmsweise mit deiner Seife waschen? Ich brauch' nicht viel Seife bei meiner Größe, bestimmt nicht... und darf ich mich dort waschen, wo du dich auch wäschst, an deinem großen Becken, darf ich? Ach danke, Hannes, du bist so lieb... du, während ich mich wasche, machste uns Kaffee, ja... ich habe ja solchen Durst, schon seit Stunden, und Hunger... Hunger... hast du ein Brot mitgebracht? Du, schneid' mir doch gleich ein, zwei Stullen ab, die kann ich ja gleich schon mal... Hast du auch gehört, was sie da im Haus reden über mich, daß sie sich aufregen darüber, wie ich aussehe mit den Haaren? Wahr isses, ja, man kann nicht rumlaufen so. Sieh mal, Hannes, du mußt ehrlich sein zu mir, mit diesem Kopf kann ich doch nirgends hingehen... Drum kann ich mich immer nur hier drinnen verstecken wie ein Maulwurf. Schon jahrelang geht das so! Früher hatte ich einen Zopf... zwei sogar... wo ist das alles? Die Frau von nebenan, die hat so schöne Locken, und ich? Keine Locken... nicht mal Haare! Der Frisör würde es mir ja vielleicht sogar etwas billiger machen, bei den drei Borsten, aber es fehlt mir die Begleitung... könntest du nicht mit mir zum Frisör die Woche? Meinetwegen können wir auch nächste Woche... und noch was, zum Zahnarzt muß ich auch. Mit meinen Zähnen ist was falsch, man hat sie mir dreimal gegeben und eine ganze Woche nicht, irgendwas stimmt da nicht, vielleicht sind sie wieder runtergefallen, und sie traun sich nicht, es zuzugeben? Der Dr. Becker kann sich das mal anschauen und sagen, ob ich nun vielleicht neue brauche oder die noch gehen für den Rest... Sieh mal, ich bin doch so bescheiden... jetzt, wo ich bald sterbe, wäre ich ja dumm, wenn ich nicht auf alles verzichten würde. Ich hätte mich eben früher... früher, wo's noch schön war... da hätte ich mir mal einen Wunsch erfüllen sollen... ich hätte ja bloß alles wissen müssen, was kommt, früher, als alles noch gut war... Manches hat man sich ja gegönnt... ja, die Würstchen, die waren gut, mit Senf, Schrippe und ein kleines Bier... ach, warum bin ich nur so bettelarm... Ach, lieber Gott, lieber Herr im Himmel, schick mir doch... schick mir doch bitte... ein heißes Würstchen... Sieh mal, wie mich das anstrengt? Mein Mund ist schon ganz trocken, und es ist kalt... kalt. Nur gut, daß ich hier zugedeckt liege. So isses schön, ich warte, bis mir wärmer wird, und vielleicht kommt ja doch mal jemand vorbei mit einem Schluck Wasser... vielleicht... es gehen so viele Menschen vorbei, andauernd, aber soll ich denn jeden herrufen und ein Geschrei machen um ein bißchen Wasser? Ich bin ruhig, darum gehen alle immer so gern zu mir... früher... So ruhig waren unsere zwei auch. Gab man denen 'ne Stulle und ihr Püppchen, dann saßen sie den ganzen Tag unterm Küchentisch und haben gespielt... liebe, gute Kinder, alle drei... äh zwei... so ruhig... so ruhig, wie die Frauen, die mit mir hier liegen, jahrzehntelang. Von denen ist nichts zu hören und nichts zu sehen... Gerda und Hannes... Hannes und Gerda... ich hab euch aufgezogen, das war nun alles umsonst? Die kamen mich nicht holen, Heiligabend, nach Hause, wie versprochen von Hannes, damals im Herbst. Ach Hannes... Hannes, mein großes Hans, dich habe ich liebgehabt, aber egal... am Abend ist alles verbraucht. Den Glücklichen drückt keine Stunde, doch einmal trägt man sie alle zu Grabe, auch Gerda... Gerda, liebe Gerda, sieh mal, wie die Leute dort auf dem Friedhof sich alle zur Ruhe gelegt haben, und nur ich muß warten bis auf den letzten Moment. Hier... in dem Halbkreis... will ich... muß ich sterben. Wie mich das anstrengt... na... ist egal. Alles andere habe ich mir aus dem Kopf geschlagen, jetzt, wo ich Vogelpfoten kriege... aber ich müßte ja schön dumm sein, wenn ich früher gegangen wäre, das hat noch ein bißchen Zeit. Heute kann ich mir ja noch selber helfen, aber was dann wird... Ich kann ja einfach rufen, sagt der Hannes, irgend einen wildfremden Menschen: Bitte, helfen Sie mir, helfen Sie mir, bleiben Sie bei mir, lassen Sie mich nicht alleine hier liegen in meinem Eisenbett! Aber ob das nutzt? Ich hab' schon alles versucht... sieh mal Hannes, da kommt keiner! Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, als hier zu liegen und zu warten... das ist nicht schön, das Warten... mir ist kalt, weh tut's auch, die ganze Seite ist schon abgestorben, komm... komm doch mal, liebe Gerda, und dreh mich um... so isses schon viel besser, und nun mach's schön warm, ja? Ach, Gerda, liebe Gerda... das war gut... so gut... die Würstchen, der Schinken, das schmeckt mir gut. Neulich hatten wir mal Reis, weißt du noch? Aber sieh mal, ich bin ehrlich, die Wurst, die schmeckt besser. Leider... jetzt sind sie alle weg, die Würstchen. Du, Gerda, bitte sei so gut und bring mir mal meine... meine Einkaufstasche her und mein Portemonnaie... oder nimm dir Geld raus für die Besorgungen und... liebe Gerda... bring ein gutes Fläschchen mit... ausnahmsweise, ich warte hier... oder ich rufe mal den Hannes an, und wenn ihr dann kommt, am Abend, dann werde ich alles erklären, das mit der Aussteuer und all diesen... ich muß euch ja so viel erklären, und ihr sollt dann euer Gutachten geben... wie ihr wollt, so wird's gemacht, kannst dich drauf verlassen... Ich würde ja gerne bei mir zu Hause bleiben, aber ich hab' da keinen Menschen, ich brauch' einen, der mich pflegt, mich wäscht, das ist alles nicht so einfach, im Winter, wenn es kalt ist. Wer holt mir die Kohlen, macht den Ofen und Essen und Wäsche... ich würde ja gerne... nur wie? Jetzt ruf' ich den Hannes an!

(Das Folgende spricht sie mit fester Stimme und größerer Lautstärke, ganz so, als würde sie telefonieren:)

Hannes? Du, ich will nicht lang' stören, aber wegen heute abend, falls es wieder nichts wird bei dir... ich habe der Gerda auch schon... ja... ich will euch nur mitteilen, daß ich in das Heim da... in den Alt... in den Halbkreis will... Dahin gehe ich, zu den Pflegerinnen, die mich pflegen... laß nur, Hannes, es hat ja keinen Zweck... diesen Vorschlag habe ich euch nun gemacht, und ich finde es richtig... nee, sieh mal, Hannes, ich habe doch keinen einzigen Menschen, der micht pflegt, du kannst dich nicht kümmern, und der Gerda will ich das auch nicht... ja, schon... bis jetzt... aber im Winter, wenn's kalt ist? Siehste! Jetzt isses so, ich muß mir dazu eine Aussteuer kaufen, sie haben dort in dem Heim keinerlei Textilien mehr, weißt du, ja, und diese Aussteuer kostet tausend Mark, na, das kann ich grade noch machen... es geht... aber dann ist mein Erspartes schon aufgebraucht... Es geht nicht anders! Leibwäsche brauch' ich, Nachthemden, Laken, Bezüge, Kopfkissen, Unterwäsche, ein, zwei Dutzend Taschentücher... ich will nicht immer bitten müssen, verstehste das, Hannes? Na siehste! Eben... und deshalb brauche ich diese Aussteuer, soviel ist grade noch auf meinem Sparbuch, mach dir keine Sorgen... ich will keinem von euch Kindern... wollte nie jemandem auf der Tasche liegen oder zur Last fallen... Vielleicht besucht ihr mich mal, denn es ist schön, wenn man sich sieht, ich bin ehrlich... und Heiligabend sind wir alle zusammen, wie früher!... Ja, Hannes, das verstehe ich doch, kommt, wenn ihr Zeit habt... und noch was, Hannes, das ist wichtig... falls du heute abend nicht... morgen jedenfalls mußt du mit mir auf die Post... damit ich von meinem... ja... meinst du, daß sie mir überhaupt soviel auf einmal auszahlen... ja? Na, ist gut, also, ich bin morgen hier und warte auf dich, also vergiß es nicht, danke, ja, Wiedersehen, Hannes... Du, noch was, dann kann ich dir morgen ja gleich das Versprochene geben... und der Inge schulde ich auch was, was sie für mich ausgelegt hat, in Österreich. Weißte... ich vergesse meine Versprechen nicht... du auch nicht, das ist gut! Du begleitest mich also morgen, da bin ich sehr froh, Hannes. Es soll auch nicht umsonst sein, ich werde mich erkenntlich zeigen... nein, nein, ich will mich revanchieren... nein, du, laß nur, du weißt ja, daß ich euch... lieb habe... alle beide... ich muß es ja mal sagen... gut, Hannes, das mache ich, egal, wann du kommst... ich warte. Wiedersehen!