Wühltisch
: Zeigt her eure Füße

■ Distinktion von unten: Es kommt auf die Schuhe an

Lange bevor der Soziologe Bourdieu das systematische Zusammenwirken der Geschmacksurteile auf den Begriff der Distinktion gebracht hatte, war ich von meiner Jugendfreundin Ulla, gelernte Schuhverkäuferin, in ihr besonderes Unterscheidungswesen eingeweiht worden. Schon aus beruflichen Gründen sah sie den Leuten immer auf die Füße. Das Schuhwerk, behauptete sie, erlaube ihr weitreichende Schlüsse. Charakter, Bildung, ja, finanzielle Verhältnisse können anhand des Schuhwerks ausgemacht werden. Im Freundeskreis wurde ihre kleine Theorie natürlich mehrfach überprüft, und fast immer behielt sie recht.

Ob einer Anzug trug oder Norweger-Pullover, war ihr mehr oder weniger gleichgültig. Auf die Schuhe kommt es an. Die Ökoschuhmänner, Birkenstock, Roots, Ganter und so weiter, fand sie erwartungsgemäß langweilig. Sie nannte sie Fußbettfetischisten, was immer das heißen mochte. Wenn italienische Slipper nahten, einigermaßen solide verarbeitet, merkte sie umgehend auf. Richtig entzückt aber war sie erst, wenn sie das liebliche Triptrap englischer Ledersohlen vernahm.

Der Schuh, heißt es, ist das verbindende, aber auch das trennende Element zwischen dem Menschen und der Erde, von der er stammt und über die er sich zu erheben bemüht. Es gibt allerlei Wissenswertes über den Schuh als Herrschafts- und Sexualsymbol (Ruckedigu, Blut ist im Schuh ...). Die christliche Mythologie verwandte die Schuhmetapher meist als moralische. „Neu Schuh zeug mir an meine Füß / Daß ich selig zu wandeln wiß“, heißt es in einem Kirchenlied aus dem 16. Jahrhundert.

Der Schuh kann einerseits die stützende Paßform sein, in der man anmutig und sittsam durchs Leben kommt. Andererseits gibt es die Metapher vom drückenden Sündenschuh. Womit Ullas Wahrnehmungsmuster nachhaltig bestätigt wäre: Es kommt auf die Schuhe an.

Der schwarze Cheaney Oxford, selbstverständlich rahmengenäht, ist der Klassiker jeglicher Schuhherstellung. Modische Extravaganz, grazile Eleganz und raffiniertes Design ist Cheaneys Sache nicht. Italienisch ist die Kleidungsart von Aufsteigern mit gewissen geschmacklichen Standards, die freilich die Unsicherheit über die erreichte Position im modischen Wechsel zu verbergen suchen. Das führt zu Kreationen wie jenen des Öko-Italieners Fausto Santini.

Im englischen Schuh hingegen drückt sich die erhabene Gewißheit aus, über Sinn für das Wesentliche zu verfügen. An den Cheaneys ist abzulesen, daß auch die schlimmen Jahre des Thatcherismus dem englischen Klassen- und Stilbewußtsein nichts anhaben konnten. Seit 1886 fertigt man in Desborough in Northamptonshire die Schwarzen aus Royal Calf, und das wird so bleiben. Der anglophile Schuhträger favorisiert Cheaney bis in die Senkelspitzen aus poliertem, gewachstem und fünffach gezwirntem Baumwollfaden. Die Qualität und Haltbarkeit des englischen Markenschuhs ist das eine Gütezeichen, das andere ist sein spröder Charme, seine Auffälligkeit auf den zweiten Blick. Der englische Schuh ist die geadelte Norm des Beständigen in einer Zeit, in der der Tourismus unablässig Sonderungsvorschläge macht, maßgeschneiderte Anzüge aus Sri Lanka und dergleichen.

Cheaney-Schuhe, das ist die Atkinson-Krawatte gegenüber der Unart, unterm Jacket bloß ein T-Shirt zu tragen. Die sichere Wahl also, um reinen Geschmack gegen die grassierende Italianisierung zu behaupten? Ich war mir ziemlich sicher, bis Ulla gestand, sie stehe schon seit geraumer Zeit mehr auf „Budapester“. Harry Nutt