Mehr als das Ich

■ Auf der Spur des „Anderen“, gegen die totalitäre Homogenisierung der Welt: Der französische Philosoph und Religionswissenschaftler Emmanuel Lévinas ist tot

Hartnäckig weigerte sich Emmanuel Lévinas nach dem Zweiten Weltkrieg, Deutschland zu betreten – er konnte und wollte nicht vergessen, daß seine Familie in Kaunas Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen die Juden geworden war. Lévinas, der am ersten Weihnachtsfeiertag im Alter von 90 Jahren in einer Pariser Klinik starb, wurde 1905 in Kaunas/Litauen geboren. In den zwanziger Jahren ging er zum Studium nach Straßburg und Freiburg, wo Husserl und Heidegger zu seinen Lehrern gehörten. 1930 ging er endgültig nach Frankreich und nahm die französische Staatsbürgerschaft an.

In Frankreich war Lévinas schon in den fünfziger Jahren ein wichtiger Philosoph, sein Werk „Totalité et infini“ aus dem Jahr 1961 ein in zahllosen Wiederauflagen erschienener Klassiker der Philosophie. Seine Entdeckung in Deutschland dagegen ließ, abgesehen von einigen kleinen versprengten Texten, bis in die frühen achtziger Jahre auf sich warten. Obwohl in anderen Ländern längst auch die sogenannten „großen Geister“ sich für seine originelle Philosophie interessierten. 1983 erschien in dem im katholischen Umfeld angesiedelten Alber-Verlag in Freiburg seine erste größere Abeit, „Die Spur des Anderen“, weitere, wie „Wenn Gott ins Denken einfällt“ oder „Totalität und Unendlichkeit“ folgten. Das Interesse an bestimmten Aspekten seiner Philosophie nahm derart zu, daß er seit einiger Zeit auch für wichtig genug befunden wird, Kongresse über ihn zu veranstalten. Ob ihm aber die versuchten Vereinnahmungen – sei es zur moralphilosophischen Fundierung religiöser Überzeugungen in einer sonst an Wertvorstellungen armen Welt oder auch als gewissermaßen kommunitaristischer Metaphysiker – gerecht werden, muß man doch eher bezweifeln.

Lévinas Denken ist tief in seiner Herkunft aus einer jüdischen Tradition verankert, verdankt sich dem Zusammenstoß von Denkfiguren aus dieser Tradition mit Grundmustern des abendländischen Philosophierens. Ausgangspunkt ist der Skandal, den jeder identitätsphilosophische Ansatz darstellt, der in der Bewegung des Selbstbewußtseins vom An-sich zum An-und-für-sich die Fremdheit auflöst. Natürlich trifft das zunächst und vor allem Hegel, aber die identitätsphilosophische Tradition der „Reduktion des Anderen auf das Selbe“ geht in der Vergangenheit für Lévinas weit hinter Kant zurück, und auch Heideggers Primat des Seins vor dem Seienden und der Ontologie vor der Metaphysik ordnet sich darin ein.

Für Lévinas geht es um Metaphysik, aber nicht als Suche nach dem positiven Urgrund des Göttlichen oder Absoluten, sondern als ein Philosophieren auf der Spur des Anderen, es geht, wie er es selbst nennt, um eine „Ethik der Begegnung“. Er knüpft dabei an einen Gedanken Descartes' an, der bemerkte, der Mensch denke im Unendlichen mehr, als sein Denken zu fassen vermöge. In diesem Sinne ist der Andere, jeder Andere, wenn er wirklich radikal anders ist und nicht nur eine Ausdehnung des Selbst, mehr als das Ich, er schränkt es ein und begrenzt dessen „Wahrheit“. Es ist die Beziehung zum Göttlichen als radikale Andersheit. Deshalb ist für Lévinas Hiob, der für eine Welt und Geschichte vor Gott Verantwortung übernimmt, obwohl er zu spät gekommen ist und diese Welt ohne ihn geschaffen wurde, das Bild eines Denkens und Handelns, das den Anderen nicht dem Selbst einverleibt.

Man könnte diese Philosophie im Unterschied zur mystischen Gottessuche als „rationale“ Metaphysik bezeichnen, als Versuch, den Einbruch des Unendlichen, dem Lévinas den Namen Gott gibt, in unsere Welt nachzuzeichnen. Daß dieses Denken, obwohl scheinbar so „abgehoben“, nahezu zwangsläufig eine politische und soziale Dimension hat, das hat Lévinas niemals, auch nicht vor sich selbst, verborgen. Immer wieder hat er, bei unterschiedlichsten Anlässen, das Problem der Gerechtigkeit umkreist. Sei es, daß er auf einem Kongreß jüdischer Intellektueller und Talmudgelehrter in Frankreich die Frage von Schuld und Verzeihen den Deutschen gegenüber erörterte („Vielen Deutschen kann man verzeihen, doch ... es fällt schwer, Heidegger zu verzeihen“), oder daß er darauf aufmerksam machte, daß trotz des Sieges über den Kommunismus, oder vielmehr gerade dadurch, die Demokratie auch etwas verloren habe, nämlich die „Erwartung, das Unrecht, das den Schwachen angetan wurde, wiedergutmachen zu können, die Erwartung einer gerechteren sozialen Ordnung“.

Diese Überlegung hat um so mehr Gewicht, als sie geäußert wird von einem Denker, der wie nur wenige andere in dieser zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Philosophie entwarf, die immer und an jedem Punkt widerständig ist gegen die Versuche einer totalitären Homogenisierung der Welt – unter den Vorzeichnen welcher Wahrheit auch immer. Ulrich Hausmann