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Die Sehnsucht nach Suff

Im Obdachlosenwohnheim in Berlins Buckower Chaussee leben Wohnungslose unter Bedingungen, die sich nur noch im Alkoholrausch ertragen lassen  ■ Von Peter Lerch

„Kennst du Pepperoni- Schnaps?“ fragt Manne und fährt sich mit der Hand durch sein verwüstetes Gesicht. In ihm kann man – gleich Jahresringen an einer Eiche – mühelos die Spuren unzähliger Besäufnisse ablesen. „Unten in Bayern haben sie mir das Zeugs mal hingestellt. Hab' mich noch über die rosa Farbe gewundert und gedacht, was is'n das. Als ich es dann runter hatte, dachte ich, mir platzt der Kopp. Puuh. Die Tränen sind mir in die Augen geschossen! Teufelszeug!“

„Ist doch gar nix. Mußt dir mal Knoblauch-Schnaps reinziehen“, entgegnet ihm Ollie, der rotgesichtige Fleischer, der seit zwei Tagen im Notaufnahmezimmer des Tempelhofer Obdachlosenheims rumhängt. Bajuwarischer Doppelzwock nach Hausmacherart. Zimtbier. Champagnerplautze. Indonesisches Pfefferbier. Immer exotischer werden die Namen der Schluckknorpelschmeichler, die sich die beiden obdachlosen Männer wie Pingpong-Bälle zuspielen. Udo, der gewiß kompetenteste Zimmerbewohner in Sachen geistiger Getränke, kann nicht am Gespräch teilnehmen, weil er zusammengekrümmt unter der Bettdecke liegt und im Alkoholentzug vor sich hin zuckt.

Wer im Wohnheim Buckower Chaussee nicht dem Suff verfällt, muß schon jenseits von Gut und Böse, mittelschwer verhuscht oder stereotaktisch vorbearbeitet sein. Zu herb ist der allgegenwärtige Pesthauch der Armut, der sich im Laufe der Jahre in die Wände eingegraben und sie gelb und schäbig gefärbt hat. Zu traurig ist die Horde der tätowierten Alten, die krüppelig und bucklig vor sich hinsabbern. Langhaarige, unrasierte Dulder in vergilbten Unterhemden, deren impressionistisch gesprenkeltes Doppelripp Auskunft über das letzte Dutzend eingenommener Mahlzeiten seiner Träger gibt, schlurfen sie, teils mit Krücken und schlackernden Schuhlaschen, durch die Flure. Und zu verkeimt sind die jedes Menschenauge beleidigenden Latrinen, an denen, sofern überhaupt Türen vorhanden sind, die Verriegelungen fehlen.

Es ist Sonntag. Es gehört zu den Gepflogenheiten des Hauses, seiner Klientel an Sonn- und Feiertagen die Kaltverpflegung bereits um neun Uhr früh zu verabfolgen: sechs bis acht Scheiben Schnittbrot, einen Batzen wäßrigen Bierschinkens und sieben Portionen Butter. Weil es Sonntag ist, kommt es obendrein zur Aushändigung einer vage an Mohnkuchen erinnernden Fehlleistung eines unbekannten Bäckerlehrlings. Zum Mittag attackiert man die Geschmacksknospen der Heiminsassen anläßlich des geheiligten Feiertages mit Knastessen: Einer klumpigen Mehlmasse, die ein pompöser Speisezettel als Spätzle denunziert. Dazu gibt es Leipziger Allerlei und ein übelriechendes Stück Kalbsbraten.

Das entvitaminisierte Alibifutter läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Männer mit dem Verlust der Wohnungen auch das Recht auf eine angemessene Verpflegung und eine zivilisierte Einnahme der verabreichten Mumpe verloren haben. „Wollen sie einen Löffel oder eine Gabel?“ wird der Essenfassende am Ausgabeschalter vor die Wahl gestellt. Und manch einer, wie der graubärtige Alte am Nebentisch, löst den Besteckmangel mit erfinderischer Konsequenz.

Gedankenverloren schaufelt er Leipziger Allerlei, Spätzle, Soße und Kalbfleisch in einen mit heißem Wasser gefüllten Plastiknapf, in dem laut Aufschrift früher einmal Pfennigs Kartoffelsalat abgepackt war. Bedächtiges Umrühren. Dann löffelt er laut schlürfend den so zustande gekommenen Eintopf derart genußvoll, daß die Spritzer zwei Meter durch die Gegend schmattern. Nur wenige setzen sich an einen der fünfzehn Tische in der geräumigen Speisehalle, die von der Heimleitung Wappensaal genannt wird, weil an den Wänden miserabel kopierte Adelswappen aus bemaltem Holz aufgehängt sind. Freiherr von Not & Elend? Earl of Kleidergeld? König Alkohol? Wenn auch die wenigsten der hier versammelten ein Adelswappen in der Ahnenriege haben dürften – eine Fahne trägt fast jeder vor sich her.

Wie in einem richtigen Rittersaal wird auch hier gegröhlt und gezecht, solange die Sozialhilfe reicht. Davon zeugen die zahlreichen Müllsäcke, die unentsorgt überall rumstehen und die sich unter Wodka-, Korn-, Bier- und leergesaugten Weinpullen voluminös ausbeulen. Die Sehnsucht nach Suff ist allgegenwärtig.

Ollie und Manne haben auch auf dem Weg zum Speisesaal nicht aufgehört, ihre Sufferfahrungen abzugleichen. „Geismaß: Kirschlikör mit Cola und Bockbier und obendrauf noch mal einen Kirschlikör, das ist auch was Feines“, schwärmt Manne und versichert, daß man selbst als Kampftrinker nicht mehr als vier Maß verkraftet. „Chicago scharf ist auch 'ne feine Sache: Magenbitter plus Bier pro Verliererrunde!“

“Oja, das fetzt“, bekräftigt Ollie, dessen Diminutivnämchen umgekehrt proportional zur Masse seiner rund dreihundert Pfund Lebendfleisch steht. Dagegen ist der vom Hardcore-Saufen abgefuckte Manne eigentlich ein Männchen, dessen Körperlichkeit in etwa seinen bedenklichen Leberstatus widerspiegelt: klein, hart und auf das Notwendigste zusammengeschrumpft. Während er in memoriam über die schändlichen Nachwirkungen des Magenbitter-Abusus jammert, macht sich Ollie konzentriert über seinen Happenpappen her. Der aus Magdeburg stammende Mann hat Pech gehabt. Viel Pech.

Als Opfer betrieblicher Personalabbaumaßnahmen verlor Ollie mit fast fünfzig Jahren seinen Job als Lagerarbeiter. Dann mußte er aus der Wohnung seiner Freundin ausziehen, weil diese für unabsehbare Zeit ins Krankenhaus mußte und ihr zugereister Sohn die Wohnung für sich beanspruchte. Höhepunkt seiner existentiellen Krise war jedoch der Totalverlust seiner Papiere. Führerschein, Paß, Personalausweis, Kontokarte – wie sie ihm weggekommen wurden, weiß er nicht mehr. Mit einem Schein von der polizeilichen Meldebehörde als Beleg für seinen verlorenen Personalausweis kreuzte er freitags beim Sozialamt in Tempelhof auf, um seinen Anspruch auf Hilfe in allen Lebenslagen geltend zu machen. Bei der Stelle für Obdachlose wandte er sich an den zuständigen Sachbearbeiter, der wenig Neigung zeigte, am Vorwochenende-Freitag das soziale Netz aufzurollen. Sachbearbeiter Sch. empfahl Ollie, sich ins Wohnheim Buckower Chaussee zu begeben. In der kommenden Woche werde man weitersehen.

Einen Kostenübernahmeschein oder etwas Ähnliches bekam Ollie nicht. Denn wenn es um das Aufschieben von finanziellen Sozialleistungen geht, können die Tempelhofer unglaublich unbürokratisch sein. Daß Ollie nun vier Tage ohne einen Pfennig Geld im stickigen Notaufnahmezimmer des Heimes rumhängen sollte, interessierte den im gesamten Wohnungslosenasyl berüchtigten Sachbearbeiter genausowenig wie der Umstand, daß er sich nicht einmal eine Fahrkarte zum Wohnheim kaufen konnte. „Fahren sie doch schwarz. Zur Einwohnermeldebehörde sind sie ja sicher auch schwarz gefahren.“ Ollies Einwand, sich nicht strafbar machen zu wollen, parierte der ebenso dickleibige wie eloquente Sch. mit der Bemerkung, daß er auch zu Fuß gehen könne. Wenn er einen jugendlichen Schritt vorlege, könne er in einer guten Stunde dort sein, lautete der Rat des Bürokraten. In den heimeligen Büros der Tempelhofer Elendsverwaltung hat man eben Humor.

„So ein verdammtes Schwein! Daß dem noch keiner in die Schnauze geschlagen hat ...“, flucht Manne kopfschüttelnd, während er mit seinen nikotingelben Fingern ein paar Kippen auseinanderbröselt. Denn auch er hat den Sch. als Sachbearbeiter.

Jedenfalls brauchte Ollie für den Weg zum unteren Rand von Berlins Süden schließlich fast zwei Stunden. Aber dann wurde er ganz formlos aufgenommen, indem ihm der Pförtner einen roten Quittungsabschnitt aushändigte, der ihn zum Empfang von drei Mahlzeiten berechtigt. Anschließend bekam er zwei graue Roßhaardecken, Bettzeug, eine Rolle Klosettpapier und ein Stück Hautschutzseife, bevor er vom Hausmeister in Raum 210 – das Notaufnahmezimmer des Wohnheims – eingewiesen wurde.

Inzwischen hat sich der zitternde Udo aufgerappelt. Aschfahl sitzt er nun am Tisch im Speisesaal und klammert sich an eine Tasse mit ungezuckertem Tee. Er ist bereits seit vierzehn Tagen im Heim. Weil er von seiner Arbeitslosenhilfe die Miete nicht mehr bezahlen konnte, setzte ihn die Wohnungsbaugesellschaft kurzerhand auf die Straße. „Ich komme eines Tages nach Hause, und die ganzen Möbel sind rausgeräumt“, erzählt er. „Dann bin ich hierher. Aber hier haben sie mich auch schon mal rausgeschmissen, weil ich nicht arm genug bin.“ Inzwischen ist der Mann, dessen ganzes Wesen schon die graugrüne Färbung des nach ungewaschenen Leibern und schalem Zigarettendunst muffelnden Ambiente des Heimes angenommen zu haben scheint, ein sogenannter Selbstzahler. Zweihundert von seinen sechshundert Mark Arbeitslosenhilfe muß er für sein Bett im Vier-Mann-Zimmer berappen.

Doch Udo ist optimistisch und hofft darauf, in Kürze die Wohnung eines Freundes übernehmen zu können. Gelegentlich kann er sich ein paar Mark als Fahrer bei einem Berliner Kurierdienst dazuverdienen. Trinkgeld. Im wahren Sinne des Wortes: Geld, das in Form von Billig-Bierdosen nach kurzem Zwischenlager am Bettpfosten in den Magen seines Eigentümers wandert und Udo zeitweilig von der allzu scharfen Wahrnehmung der Wirklichkeit abschneidet.

Doch im Moment ist Udo pleite, und vor Montag stehen die Aussichten schlecht, daß er irgendwie an Geld kommt. Also wird er durch die muffigen Flure der ehemaligen Kaserne schleichen, hier und da an die Zimmertüren klopfen und darauf hoffen, daß ihn irgendeiner auf ein Bier oder einen Drink einlädt. Wenn nicht, wird ihm wieder mal nichts anderes übrigbleiben, als im Kreise seiner schnarchenden Leidensgefährten eine ziemlich unruhige Nacht im überheizten Notaufnahmezimmer zu verbringen, während im Smog der vier vor sich hinfurzenden Schläfer die austrocknenden Frühstücksstullen Wellen schlagen.

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