Behörden gehen von Mord aus

■ Sechzehn Anhänger der Sonnentempler-Sekte wurden in Frankreich tot aufgefunden. Die Tragödie führt zu einer Debatte über ein Verbot der Gruppe

Grenoble/Berlin (AFP/taz) – Die französischen Behörden haben mit der Obduktion der 16 Leichen von Sektenmitgliedern begonnen, die am Tag vor Heiligabend in einer Waldlichtung im Vercors, einem Hochplateau bei Grenoble, gefunden worden waren. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen sollen Auskunft über Todesursache und -zeitpunkt geben. Ein kollektiver Selbstmord der Anhänger des Sonnentemplerordens wird von der Staatsanwaltschaft mittlerweile praktisch ausgeschlossen. Sie hat den Verdacht, daß die Mehrzahl der Opfer mit Medikamenten betäubt und gegen ihren Willen erschossen wurden. Auch wird nicht ausgeschlossen, daß einige der an der Tat Beteiligten geflohen sein könnten.

Schon am Mittwoch vergangener Woche hatte die Schweizer Polizei die Befürchtung geäußert, daß sich unter den Sonnentemplern möglicherweise eine Tragödie ereignet habe, weil einige Mitglieder schon seit einigen Tagen vermißt gemeldet waren. Daraufhin wurde eine internationale Suchaktion gestartet. Die Ahnung wurde zur Gewißheit, als Hubschrauber am Tag darauf die verkohlten Leichen fanden, die in Form eines Strahlenkranzes um eine Feuerstelle angeordnet waren. Alle Toten, unter ihnen die Leichen von drei kleinen Mädchen, wiesen Schußverletzungen auf, es wurden Verpackungen mit giftigen Substanzen, Reste eines Brandbeschleunigers und mehrere Pistolen gefunden.

Schon einmal hat der Sonnentemplerorden für grausige Schlagzeilen gesorgt. Im Oktober 1994 fand man in den Schweizer Kantonen Freiburg und Wallis 48 Leichen in niedergebrannten Häusern der Sekte. Die Brände wurden zeitgleich gelegt, auch damals waren die Sonnentempler erschossen worden und kreisförmig, mit den Füßen nach innen, in die Häuser gelegt worden. Der Massentod hatte damals auch eine transatlantische Komponente: In einem Haus im kanadischen Morin Heights wurden fünf tote Mitglieder des Sonnentempels gefunden. Bei den simultan organisierten Massakern kamen insgesamt 53 Schweizer, Franzosen und Kanadier ums Leben, unter ihnen Luc Jouret, der mutmaßliche Anführer der Sekte.

Das Drama von 1994 ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Zwar wurden Schriftstücke gefunden, in denen Angehörige der Sekte ihren Willen äußern, „eine andere Welt“ sehen zu wollen. Die Tatsache jedoch, daß auch damals einige der Opfer erschossen wurden, ließ Zweifel an einem kollektiven Suizid im selbstsuggerierten Glücksrausch aufkommen und wies auf einen internen Machtkampf hin. Die Ermittlungen legten eine Verbindung der Sektenbosse zu illegalen Waffengeschäften nahe, ein internationales Netzwerk von Bankkonten, Vereinigungen und Unternehmungen wurde aufgedeckt.

Nach dem neuen Fall hält der mit den Ermittlungen befaßte Richter André Piller ein Verbot der Sekte in der Schweiz für möglich. In Frankreich äußerte der kommunistische Abgeordnete Jean-Pierre Bard den Verdacht, im Parlament, im Richterstand und anderen einflußreichen Behörden befänden sich Mitglieder der Sonnentempler. Daß zwei der Toten vom Samstag französische Polizisten waren, spricht für diese Vermutung. abm