Vier von fünf WählerInnen stimmten bei den Nationalwahlen in der Türkei gegen die islamistische „Wohlfahrtspartei“. Mit über 21 Prozent wurde sie dennoch die stärkste Parlamentsfraktion – mitregieren wird sie aber nicht dürfen Aus Istanbul Ömer Erzeren

Vom rechten Weg abgekommen

Die islamistische „Wohlfahrtspartei“ (Refah) hat bei den Nationalwahlen in der Türkei am Sonntag die meisten Stimmen erhalten und wird die stärkste Fraktion im türkischen Parlament stellen. Die Wohlfahrtspartei erhielt 21,3 Prozent der Stimmen und 158 Mandate in der 550köpfigen Nationalversammlung. Doch der Freudentaumel in der Parteizentrale der Wohlfahrtspartei blieb aus.

Die rechtsbürgerliche „Partei des rechten Weges“ (DYP) unter Ministerpräsidentin Tansu Çiller erhielt 19,2 Prozent der Stimmen. Sie wird 135 Abgeordnete im Parlament stellen. Die Mutterlandspartei (Anap) unter Mesut Yilmaz, die sich in ihrer Programmatik kaum von Çillers DYP unterscheidet, kam auf 19,6 Prozent und wird 132 Abgeordnete stellen.

Fast einmütig titelten die türkischen Zeitungen nach der Wahl, daß ein Zusammengehen beider Parteien, die auf fast 40 Prozent der Wählerstimmen kommen, unabdingbar geworden ist. Sowohl Ministerpräsidentin Çiller als auch Mesut Yilmaz lehnen eine Koalition mit der Wohlfahrtspartei ab. „Keine Zusammenarbeit mit der Wohlfahrtspartei. Ihre Ziele sind mit den unsrigen nicht vereinbar.“ Ausgegeben hat diese Devise Tansu Çiller, die mittlerweile ihren Rücktritt beim Staatspräsidenten einreichte.

Mesut Yilmaz von der Mutterlandspartei sagte, daß die Wohlfahrtspartei sich selbst außerhalb des „Systems“ stelle und somit kein Koalitionspartner sei. Die Philosophie der Partei widerspreche „Prinzipien der Republik“. Sowohl die DYP als auch die Anap hatten in ihrem Wahlkampf das Schreckgespenst einer islamistischen Regierung an die Wand gemalt. Die Konkurrenten Çiller und Yilmaz beschuldigten sich gegenseitig, heimlich den Islamisten Konzessionen zu machen. Nach dem Wahlergebnis werden die beiden persönlich verfeindeten Parteiführer zusammenarbeiten müssen. Sowohl Unternehmerverbände als auch die bürgerlichen Medien üben in diesem Sinne Druck aus. Bezeichnend ist der Kolumnist Oktay Eksi von der großen Istanbuler Tageszeitung Hürriyet. Eksi: „Der türkische Wähler hat zwischen einem Staat, in welchem das islamische Scharia-Recht herrscht, und der Republik Atatürks gewählt. Vier Fünftel der türkischen Wähler, 80 Prozent gegenüber 20 Prozent, haben entschieden, daß sie nicht in der Lügenwelt, sondern in der Atatürk-Türkei leben wollen.“

Die beiden Mitte-Links-Parteien, die „Partei der demokratischen Linken“ (DSP) unter Bülent Ecevit und die „Republikanische Volkspartei“ (CHP) unter Deniz Baykal, die den Sprung ins Parlament schafften, sind ebenfalls erbitterte Gegner der Wohlfahrtspartei. Die DSP erhielt 14,6, die CHP 10,7 Prozent der Stimmen.

Das türkische Parlament wird nach Neujahr zusammentreten. Offen ist, wen der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Necmettin Erbakan („Das Volk will die Wohlfahrtspartei an der Regierung“) hofft, daß er es sein wird. Doch bereits im Vorfeld werden wahrscheinlich die übrigen Parteien eine mögliche Regierungskoaltion präsentieren. Die Mandate der DYP und der Anap reichen allerdings nicht für eine absolute Mehrheit. Eine der beiden sozialdemokratischen Parteien muß entweder von außen die Regierung unterstützen oder sich an der Koaltion beteiligen. Allem parlamentarischen Usus zum Trotz werden die übrigen Parteien es wohl auch zu verhindern wissen, daß der nächste Parlamentspräsident aus den Reihen der Wohlfahrtspartei gewählt wird.

Die Kolumne Eksis, die den Trend der bürgerlichen Medien wiedergibt, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Parteien der Mitte eine herbe Niederlage einstecken mußten. Nach den Wahlen 1991 verfügten DYP und Anap zusammen noch über 66 Prozent der Mandate in der Nationalversammulung. Demgegenüber wird die islamistischen Refah, die bislang nur über neun Prozent der Mandate verfügte, künftig 28,5 Prozent der Abgeordneten stellen.

Mit den Wahlen ist das politische Zentrum geschwächt worden, während die extremen Pole erstarkten. Die Wohlfahrtspartei stabilisierte sich, nachdem sie bereits bei den vergangenen Kommunalwahlen ihre Stärke gezeigt hatte. Dazu kommt, daß vielfach die Grenzen zwischen den rechten Parteien DYP, Anap und der Refah fließend sind. Die Anap ging bei diesen Wahlen sogar ein Wahlbündnis mit der kleinen BBP (Partei der großen Einheit) ein, die eine faschistisch-religiöse Programmatik kombiniert. Sieben Abgeordnete, die für die Anap gewählt wurden, gehören der BBP an.

Zwei Parteien scheiterten an der Zehnprozenthürde. Die faschistische „Nationalistische Aktionspartei“ (MHP), sowie die kurdische Hadep (Demokratische Volkspartei), die mit kleinen sozialistischen türkischen Parteien ein Wahlbündnis eingegangen war. Die Hadep kam im Landesdurchschnitt gerade über vier Prozent.

In den kurdischen Provinzen endeten die Wahlen allerdings wie ein Plebiszit für die Hadep, die eine friedliche, politische Lösung im kurdischen Konflikt fordert. Im kurdischen Hakkari stimmten 54, im Diyarbakir über 45 Prozent für die Hadep. Ohne die Zehnprozenthürde hätte sie 25 Abgeordnete gestellt. Kurdische Interessen werden im Parlament nach wie vor nicht wahrgenommen.

Das Wahlergebnis zeigt auch, daß im Westen der Türkei ein Großteil der WählerInnen den Versprechungen der herrschenden Parteien Glauben schenkt, daß durch eine militärische Niederschlagung der PKK der kurdische Konflikt „gelöst“ werden kann.