„Eltern, Geschwister, Partner in einem“

Jugendbewährungshelfer sollen straffällig gewordene Jugendliche auf einen „rechtschaffenen Lebenswandel“ vorbereiten. Sie klagen über die Zunahme von Gewaltdelikten und Verhaltensstörungen  ■ Von Nina Kaden

Jedesmal, wenn Elke Müller in ihrem Büro das Telefon abhebt, ist ihre erste Antwort: „O Gott, sag bloß!“ Routiniertes Entsetzen über das, was jemand über einen ihrer Schützlinge erzählt. Ihre Schützlinge, das sind insgesamt 55 Straftäter, zwischen 14 und 25 Jahre alt. Elke Müller ist Jugendbewährungshelferin und zuständig für den Bezirk Steglitz.

Wenn sie dann aufgelegt hat, wendet sie sich wieder Michael* zu, einem der von ihr betreuten Jungkriminellen. Er ist Sexualstraftäter, zwanzig Jahre alt und kommt einmal in der Woche. Elke Müller fragt ihn, was er den ganzen Tag in der Klinik mache, in der er jetzt untergebracht ist. Sie unterstützt ihn darin, daß er nicht mehr zu seinen Eltern gehen müsse, und erkundigt sich skeptisch danach, woher denn das Geld für die eine oder andere Ausgabe komme. Als er geht, steckt sie ihm noch zehn Mark für Walkman-Batterien aus einem bescheidenen Fonds der Behörde zu. Das Verhältnis ist freundlich, die beiden sind ein eingespieltes Team.

Bevor Michael in psychologische Behandlung kam, war Frau Müller seine einzige und wichtigste Stütze außerhalb des Elternhauses. „Anfangs war die Bewährungshilfe nur ein nervender Termin, aber dann habe ich gemerkt, daß das guttut“, sagt Michael. Anfangs, als sie Michaels Akte zum erstenmal las, hat Elke Müller sich erschreckt. Das passiert ihr nicht oft, schließlich ist sie seit siebzehn Jahren Bewährungshelferin. Aber Sexualtäter sind selten unter jungen Kriminellen. Typische Delikte sind solche wie Diebstahl oder Fahren ohne Führerschein. Insbesondere im Ostteil der Stadt seien Delikte „rund ums Auto“ häufig, sagt Reinhard Mozen, stellvertretender Leiter der Jugendbewährungshilfe.

Wenn die Jugendlichen der Polizei das erstemal wegen einer Straftat auffallen, werden sie, solange sie keine ungewöhnlich schlimme Tat begangen haben, noch nicht vom Jugendrichter verurteilt und müssen auch noch nicht zum Bewährungshelfer. Ein Verfahren wegen des ersten Zigarettenklaus wird eingestellt, statt strafender Justiz soll zuerst das Jugendamt helfen. Schlägt die Hilfe des Jugendamtes fehl und verübt der Jugendliche weitere Straftaten, verhängt der Richter eine Strafe. Sie wird zur Bewährung ausgesetzt, wenn zu erwarten ist, daß der junge Mensch künftig einen „rechtschaffenen Lebenswandel“ führen wird, wie es im Behördendeutsch heißt.

Höchstens zwei Jahre hilft ein Jugendbewährungshelfer den jungen Straftätern beispielsweise dabei, eine Arbeit oder Ausbildungstelle zu finden, sich aus dem zerrütteten Elternhaus zu lösen, den Schuldenberg nicht weiter anwachsen zu lassen oder persönliche Probleme wieder in den Griff zu kriegen.

Trennung von den Eltern, keine Ausbildung – um diese Themen habe es sich auch vor zwanzig Jahren schon gedreht, erinnert sich Mozen. „Schwieriger ist es heute aber, diese Probleme zu lösen.“ Wohnungsnot mache den oft heilsamen Auszug von zu Hause fast unmöglich, auch die Ausbildungssituation seiner Klientel habe sich verschlechtert. Während die straffälligen Jugendlichen der siebziger Jahre öfter die mittlere Reife hatten, einzelne sogar einen Studienplatz, sind die Bewährungshelfer heute erleichtert, wenn einer die Hauptschule abgeschlossen hat. Die Bedingungen, unter denen die Jungkriminellen wieder zum unbescholtenen Bürger werden sollen, sind schwieriger.

Gleichgeblieben ist allein die Zahl der jungen Leute, die die insgesamt 52 SozialpädagoInnen betreuen: Im Oktober dieses Jahres waren es 2.184 in Gesamt-Berlin, ungefähr genauso viele wie vor fünfzehn Jahren, trotz der Maueröffnung. Mozen erklärt sich dieses Phänomen mit einer veränderten Einstellung der Richter. Heute setzten sie weniger auf das Prinzip „Strafe“ als auf erzieherische Unterstützung durch das Jugendamt. Dennoch: Rund fünfzig Problemfälle muß ein Sozialarbeiter betreuen, da bleibt nicht viel Zeit für den einzelnen.

Wie oft die kriminellen Kids ihre staatlich verordnete Hilfe in Anspruch nehmen und zur Sprechstunde kommen, hängt ganz von den Problemen des Einzelfalles ab. Sie können es mit ihrem Bewährungshelfer frei vereinbaren. So kommen einige zweimal in der Woche, andere lassen sich nur einmal im Monat blicken.

Einmal im Monat kommt Till, und selbst das ist ihm noch zuviel: „Ich halte das für totalen Quatsch. Mein erster Bewährungshelfer, der war ja noch stumpfer“, sagt er. Dieses seltsame Lob gilt seiner jetzigen Betreuerin, Dorothea Plantikow-Graf, zuständig für den Bezirk Friedrichshain. Als die Sozialpädagogin vor fünf Jahren den Bezirk im Osten der Stadt übernahm habe sie „ganz von vorn anfangen müssen.“ Fünfzehn Jahre Erfahrung als Bewährungshelferin in Kreuzberg halfen nur wenig. „Die Orientierungs- und Hilflosigkeit der jungen Leute ist hier viel größer als im Westteil der Stadt“, sagt sie. Auch Straffällige in der DDR mußten sich nicht selbständig eine Wohnung besorgen, Arbeitslosenhilfe beantragen – oder den Termin bei ihrem Bewährungshelfer wahrnehmen.

Der einundzwanzigjährige Till allerdings scheint eine Ausnahme zu sein, er hat selbständig alles organisiert: Zu sechs Monaten Jugendstrafe wegen Diebstahls wurde er verurteilt, die Strafe wurde für zwei Jahre auf Bewährung ausgesetzt. Als er aus der U-Haft kam, war er arbeits- und obdachlos. Widerwillig erzählt er Frau Plantikow-Graf, er wohne jetzt bei seiner Schwester zur Untermiete, könne wahrscheinlich einen Schulabschluß nachmachen und habe eine Lehrstelle in Aussicht. Plantikow-Graf und Till vereinbaren einen extra Termin, wann sie seine Schulden bei Videotheken, der BVG und vielen anderen besprechen wollen. Diese praktische Hilfe nimmt Till gern an.

„Katastrophal in den Miesen“ seien sie alle, ihre Jungs, klagt Plantikow-Graf. Tatsächlich betreut die Jugendbewährungshilfe nur sechs Prozent Mädchen. Auf psychische Unterstützung legt Till keinen Wert, und das gibt er durch seine abweisende Haltung auch zu verstehen. Ob es sonst noch etwas gebe? „Verlobt habe ich mich“, sagt er und fängt an, von seiner siebzehnjährigen Braut zu erzählen. Sie wurde zweimal vergewaltigt, er hat sie in dem einen Monat, seitdem er sie kennt, betrogen. Dorothea Plantikow-Graf bleibt distanziert, auch wenn Till jetzt ein bißchen flüssiger erzählt.

„Till will die Distanz, und das respektiere ich. Unsere Arbeit ist Beziehungsarbeit, und ob diese Beziehung entsteht und fruchtbar ist, hängt von den Jugendlichen ab“, sagt sie. Die Bewährungshelfer müßten aufpassen, wann die anfangs oft abweisenden Pubertierenden sich öffneten und zeigten, daß sie eine Reaktion wollen. Wenn kein Signal komme, mache es keinen Sinn, auf sie einzugehen. Nach einer Weile fingen die meisten an zu erzählen, über irgendwas.

Ein Junge, dessen Clique ihr Opfer gewaltsam so zugerichtet hatte, daß es an den Folgen starb, habe ihr nach zwei Jahren das erstemal in die Augen gesehen, vorher blieben sie unter der Baseballmütze versteckt. Nach zweieinhalb Jahren war er zum erstenmal in der Lage, über seine Tat zu reden.

Wenn der Kontakt dann da ist, „kann ich richtig moralisierend werden“, sagt Plantikow-Graf. Zwar sind die pubertierenden Kriminellen von Predigten dieser Art meistens genervt, aber die Kriktik ist doch eine wichtige Orientierung für sie.

Aziz zum Beispiel, ein sechzehnjähriger Türke, der wegen Raubs und Körperverletzung verurteilt wurde und deswegen auch noch drei Tage Jugendarrest absitzen muß, hört gar nicht gern, daß Dorothea Plantikow-Graf ihm sagt, er habe das funkelnagelneue Mountainbike für 100 Mark nicht kaufen dürfen. „Ich wußte nicht, daß es geklaut ist“, verteidigt er sich breit grinsend. Das glaubt ihm Plantikow- Graf nicht. Aus Aziz hübschem Gesicht verschwindet langsam das strahlende Lächeln. Er merkt, daß er mit seinem Charme hier nicht weiterkommt. „Bewährungshilfe ist ja ganz nett. Aber sie hilft mir eigentlich nicht“, kommentiert er. Plantikow-Graf meint, Aziz merke eben nicht, daß sie ihm gerade dann hilft, wenn sie ihm seine Lügen nicht abnimmt.

„Wütend hat mal einer mit einem massiven Gewaltpotential zu mir gesagt: „Müllerchen, du störst! Jedesmal, wenn ich zuschlage, sehe ich dich vor meinem inneren Auge“, berichtet Elke Müller. Oft sind die Bewährungshelfer die ersten Personen, die sich über einen längeren Zeitraum mit den Kids auseinandersetzen. Das allein stellt eine positive Beziehung her und verschafft Gehör. Für ihre „Jungs“ seien sie mal Mutter, mal große Schwester und mal neutrale Stütze, beschreibt Dorothea Plantikow-Graf ihre Rollen.

In allen diesen Rollen müssen sie eines können: die Distanz wahren. Trotz der Mühe um Abstand gibt es natürlich immer einige, bei denen sie sich Sorgen machen. Aber wer die Probleme mit nach Hause nehme, der könne den Job nicht machen. Für jedes Schicksal, jede Katastrophe gibt es eine Erklärung in der kurzen Täter-Biographie. Die Tat deutlich verurteilen und den Menschen mit seiner Geschichte akzeptieren, dieser Balanceakt ist die Arbeit der Jugendbewährungshelfer. Am schwierigsten sei das, wenn sie mit brutaler Gewalt und Jugendlichen, die überhaupt kein Unrechtsbewußtsein haben, konfrontiert würden. Und die Gewaltdelikte nähmen zu, beobachten die Bewährungshelfer, genauso wie verhaltensauffällige Jugendliche. „Woran das liegt, weiß ich auch nicht. Alle Mitarbeiter wissen aus Erfahrung und Statistiken, daß Knast in diesen Fällen nichts bringt, am allerwenigsten die gewünschte „Besserung“. Trotzdem hat schon jeder einmal den Richter angerufen und gebeten, die Bewährung zu widerrufen.

*Name von der Redaktion geändert