"Früher war ich bei den Kühen"

■ Im Wintertraining des besten Langstreckenläufers der Welt: "Weltrekorde zu brechen, gefällt mir besonders", sagt 10.000m-Weltmeister Haile Gebresilasie aus Äthiopien

Morgens um acht hat Haile Gebresilasie (22) Zeit. Da hat er schon eine Stunde Training hinter sich, fünfzehn Kilometer Tempolauf in der Dämmerung. Er kommt mit einer Mappe unter dem Arm, denn nach dem Interview geht er zu seinem Englischlehrer. Selbstverständlich zu Fuß. Der Mercedes, den er 1993 bei der WM gewann, steht noch immer unbenutzt in der Garage. Gebresilasie hat im nächsten Jahr viel vor: Nach den Weltmeistertiteln von Stuttgart 1993 und Göteborg 1995, den Weltrekorden über 10.000 und 5.000 m, will er 1996 in Atlanta Doppel-Olympiasieger werden. Und am 4. Februar beim Stuttgarter Meeting erstmals in der Halle laufen.

taz: Was sind Ihre Pläne für nächstes Jahr?

Haile Gebresilasie: Wir haben Olympia in Atlanta, das ist das wichtigste. Davor habe ich Crossmeisterschaften in Südafrika. Und dann versuche ich, vor Südafrika in der Halle zu laufen, in Stuttgart. Das ist für mich der erste Lauf in einer Halle, in Äthiopien gibt es keine Leichtathletikhallen. Ich will versuchen, in Stuttgart einen Hallenweltrekord zu laufen. Aber es hängt auch davon ab, was mein Manager sagt, vielleicht ändert er seine Meinung. Aber ich will gerne in Stuttgart laufen, weil ich es gut in Erinnerung habe: Ich bin dort Weltmeister geworden.

Und im Sommer?

In Atlanta laufe ich 5.000 und 10.000 Meter. Das sind fünf Läufe. Aber es ist genug Zeit: Die 10.000 sind zuerst, Freitag der Vorlauf und Montag der Endlauf, zwei Tage danach die 5.000-Meter-Vorläufe, am Tag danach die Zwischenläufe, am Tag danach das Finale. Das ist sehr schwer zu laufen.

Halle, Cross und Bahn – ist das nicht ein bißchen viel für ein Jahr?

Es ist ziemlich schwer, sich von Halle auf Cross und von Cross auf die Bahn vorzubereiten. Ich muß eine gute Arbeit leisten. Für eine Trainingspause im Herbst hatte ich keine Zeit.

Sie fühlen sich stark genug, alles zu laufen und womöglich zu gewinnen?

(Lacht): Oho, das sage ich nicht vor dem Lauf. Ich versuche nur, sehr schnell zu laufen.

Bei Ihren Weltrekorden wissen Sie es vorher? Sie haben einmal sogar noch verlangsamt auf der Zielgeraden?

Ja, ich habe das so ausgerechnet. Ich habe die Uhr gesehen, die Zeit war zu schnell, das wäre für das nächste Mal sehr schwer gewesen. Na ja, Weltrekorde zu brechen, gefällt mir besonders.

Über die anderen Läufer können Sie eigentlich nur lachen?

Oh nein, es gibt so viele gute Läufer. Ich sehe beim Training viele junge Äthiopier, die besser sein werden als ich.

In Äthiopien ist Marathon das Größte.

Ja, ja, das ist richtig, weil Abebe Bikila ein großer Held für uns ist. Deswegen wollen alle in Äthiopien Marathon laufen, seinetwegen. Wir haben eine sehr gute Erinnerung an ihn. Außerdem haben wir Talent für Marathon. Für die kurzen Strecken braucht man Taktik, aber für Marathon braucht man Ausdauer und eine natürliche Begabung. Ich bin sicher, daß ich irgendwann Marathon laufen werde, aber wohl erst in drei, vier Jahren.

Wie trainieren Sie? Wie viele Kilometer laufen Sie pro Woche?

Das weiß ich nicht so genau. Eine Stunde am Morgen, in der Dämmerung, vielleicht 15 Kilometer. Abends etwas weniger, weil mein Morgentraining sehr hart ist. Aber ich laufe schon mehr als 25 Kilometer am Tag, und 25 mal 7 kannst du ja ausrechnen. Aber manchmal mach' ich sonntags auch Pause. Jetzt, im Training für die Cross-Saison, laufe ich nur einmal in der Woche im Stadion. Ich wohne hier am Rande von Addis Abeba, weil ich so von zu Hause aus loslaufen kann.

Straßen oder Feldwege gibt's hier aber gar nicht.

Oh nein, das ist auch nicht nötig.

Machen Sie Intervall- und Sprinttraining?

Ja, natürlich. Nach dem Training laufe ich manchmal noch 100er oder 200er.

Nach dem Training?

Ja, nach der Stunde Training. Ich meine, ich trainiere, eine Stunde ohne Pause, und danach laufe ich 100er und 200er.

Laufen Sie alleine?

Manchmal alleine, manchmal mit meinen Freunden. Ab und zu begleiten mich auch Kinder, an denen ich vorbei laufe. Seit ein, zwei Jahren kennen sie mich alle. Sie rufen Haile Gebresilasie! Hailehaile!

Wie fing es an?

Früher war mein Leben anders als das der meisten. Mein Vater ist Bauer, 200 Kiloimeter südlich von Addis. Mit fünf habe ich Kühe und Schafe gehütet, draußen, mit Regen, Sonne, Kälte. Als ich zur Schule gegangen bin, mußte ich zehn Kilometer morgens und abends laufen. Wenn ich spät dran war, mußte ich rennen. Deshalb bin ich stark geworden. Zehn Jahre lang 20 Kilometer pro Tag. Wenn ich Ihnen mein Haus und die Schule zeige, werden Sie mir nicht glauben: Die Strecke ist nicht etwa flach, es geht über alle Berge.

Erinnern Sie sich an den ersten Wettkampf?

Das war 1989. Ich war in der zehnten Klasse, ich sollte 1.500 Meter laufen, zusammen mit viel Älteren, und ich habe den Lauf gewonnen. Keiner wollte seinen Augen trauen, weil ich so klein war. Alle haben mir danach gesagt, daß ich weiter laufen sollte.

Was sind Sie damals für eine Zeit gelaufen?

Oh, das weiß ich nicht mehr, ich bin barfuß gelaufen über die Steine. Damals konnte ich das noch, heute nicht mehr.

Und wie kamen Sie dann nach Addis?

Ich bin mit 17 zur Polizei gegangen, damit ich laufen konnte. Eigentlich ging das erst mit 18, aber sie haben mich genommen. Dann habe ich mein Training begonnen, und sie haben mir gesagt, daß ich nach Addis gehen sollte, um Wettkämpfe zu machen. Das habe ich getan, und ich bin für die Cross- Meisterschaften ausgewählt worden. Dann ging alles sehr schnell. Ich war nur zwei Monate in Addis, bevor ich meinen ersten Wettkampf in Belgien hatte.

1992 waren Sie schon Junioren- Weltmeister über 5.000 und 10.000 Meter.

Es ist schon sehr lustig: Vor zehn Jahren war ich noch bei den Kühen, und jetzt lebe ich in der Großstadt, reise nach Europa, nach Amerika, Asien.

Sie trainieren auch in Holland?

Ja, ich bin da so ein, zwei Monate oder mehr in der Wettkampfsaison, aber ich trainiere lieber in Addis, bei meiner Familie. Die Höhe, 2.400 Meter, ist auch gut für das Training. Ich wohne hier mit meinem jüngsten Bruder und meiner jüngsten Schwester, die auch laufen. Mein Vater ist auf dem Land geblieben. Mein älterer Bruder lebt in Holland. Er ist ein guter Läufer, er kann 2:11 im Marathon laufen. Ich habe auch seinetwegen angefangen.

Viele Leute in Deutschland stellen sich Äthiopien immer noch als das Land der Hungersnot von 1984/85 vor.

Zum Teil haben sie recht. Es gibt hier viele, die hungern und arm sind. Aber es gibt auch einige ziemlich Reiche. Wir haben so viele Probleme gehabt, die Dürre, die Bürgerkriege. Aber jetzt entwickelt sich die Wirtschaft, und damit können sich auch die Athleten entwickeln. Wir brauchen Ausrüstung, Trainingsplätze und so weiter. Ich hoffe, daß unsere Regierung den Sport unterstützt, denn das ist wichtig. Die Wettkämpfe sind Kommunikation für alle Systeme, für die Kommunisten, für die Kapitalisten. Ein Sportler ist wie ein Botschafter.

Dann sind Sie also Botschafter Äthiopiens?

Ich bin auf jeden Fall ein Läufer oder Botschafter ganz Äthiopiens. Die Frage: Zu welchem Volk gehörst du denn? ist eine sehr dumme Frage, die leider oft gestellt wird. In Europa erzähle ich den Leuten was von meinem Land. Vielleicht kommt ja wer, nicht um Geld zu geben, sondern um eine Fabrik zu eröffnen, zu investieren. Das wäre schön. Denn wir haben so ein fruchtbares Land, aber wir brauchen Maschinen, nicht primitives Werkzeug. Wo kriegen wir das hier? Dazu brauchen wir Hilfe von außen, dann können wir alles schaffen. Mein Vater zum Beispiel hat einen Trecker gepachtet, und er produziert jetzt das Doppelte.

Was werden Sie tun, wenn Sie mal nicht mehr laufen?

Ich will noch lange laufen. Danach? Weiß ich noch nicht. Vielleicht suche ich gute Läufer aus und trainiere sie.

Auch Läuferinnen?

In unserer Kultur war es früher für Frauen sehr schwer zu laufen. Sie waren sehr schüchtern, und sie sollten besser nicht in Shorts laufen. Aber heute ist das nicht mehr so. Seit Derartu Tulu bei den Olympischen Spielen in Barcelona die Goldmedaille über 10.000 Meter gewonnen hat, ist sie ein gutes Beispiel. Jetzt gibt es viele, die laufen. Das Gespräch führte

Tanja Busse in Addis Abeba