Wenn Agenturen für Gott werben

In der Londoner City gibt es 37 Kirchen für 6.000 Menschen. Deshalb sind die Gotteshäuser pleite. Immer mehr Pfarrer sehen ein, daß sie ohne Werbung auf ihrer Dienstleitung sitzenbleiben. Aber wie verkauft man die Ewigkeit? So wie ein Waschmittel  ■ Von Ralf Sotscheck

Eigentlich hat sie in dieser Jahreszeit Hochkonjunktur. Doch die Kirche St. Martin's am Londoner Ludgate Hill ist gähnend leer. Nur im langgestreckten Vorraum, der das Kirchenschiff vom Verkehrslärm der City abschirmen soll, sitzt ein junger Mann und verkauft Weihnachtskarten und Gebäck. Hinter den verzierten Holztüren, die zwischen drei dicken Torbogen ins Innere führen, stehen mehrere Pappkartons mit alten Büchern. Daneben auf einem Stuhl eine blecherne Sammelbüchse, in die man das Geld hineinwerfen soll, wenn man sich ein Buch genommen hat. Links an der Wand liegen ein paar neue Broschüren über die Geschichte verschiedener Londoner Kirchen. Von John Betjemans Sammelband „City of London Churches“, der zwei Pfund kostet, ist jedoch nur der Umschlag da. Wer sich dafür interessiert, muß den jungen Mann im Vorraum fragen. Man traut den BesucherInnen offenbar nicht so recht.

Nach einer Weile kommen zwei weißhaarige Frauen in die Kirche und setzen sich auf zwei hintereinanderliegende Bänke. Die vordere dreht sich halb um und legt ihren Arm auf die Rückenlehne. Dann erzählt sie laut von ihren Weihnachtseinkäufen. Als sie mich sieht, steht sie auf und kommt herüber. Ob sie mir die Kirche zeigen dürfe, fragt sie. Sie ist Ende Sechzig, klein und sehr schlank. Ihren gefütterten Anorak hat sie bis zum Hals zugeknöpft, es ist kalt hier. Sie heißt Lylie Faulks und ist Mitglied im Kirchenrat, erzählt sie, während sie mich herumführt. Das Kirchenschiff ist fast quadratisch. Auf dem Weihwasserbecken befindet sich eine Inschrift in Altgriechisch. „Reinige nicht nur mein Gesicht, sondern reinige mich auch von meinen Sünden“, übersetzt Faulks. Dann zeigt sie auf den riesigen Kronleuchter und erklärt, daß er im Jahr 1760 von den Westindischen Inseln nach London gebracht wurde. „Der Gründer des US-Staates Pennsylvania hat 1642 in dieser Kirche geheiratet“, sagt sie, „und Anfang des 17. Jahrhunderts hat der Engländer John Rolfe hier seine amerikanische Prinzessin Pocahontas geheiratet.“

Damals war es freilich eine andere Kirche. Zum ersten Mal wurde St. Martin's 1174 erwähnt. Im Mittelalter gab es 97 Kirchen innerhalb der Londoner Stadtmauern, wo heute das Finanzzentrum liegt. Bei der großen Feuersbrunst, die 1666 mehr als 13.000 Häuser zerstörte, gingen auch die meisten Kirchen in Flammen auf. Charles II. beauftragte den Mathematiker und Astronomen Christopher Wren mit dem Wiederaufbau der Gotteshäuser. Heute stehen auf den knapp drei Quadratkilometern der City noch 37 anglikanische Kirchen. Die 38., St. Ethelburga, wurde 1993 bei dem IRA- Bombenanschlag auf das Londoner Finanzzentrum zerstört.

„Die Kirchen in der City haben kein Geld, weil sie keine Gemeinden haben“, sagt Lylie Faulks. Seit dem wirtschaftlichen Aufschwung Londons Mitte des vergangenen Jahrhunderts stiegen die Grundstückspreise in der City drastisch an. Bürogebäude verdrängten die Wohnhäuser, und heute leben nur noch 6.000 Menschen in der City. „Bei uns findet lediglich einmal in der Woche ein Gottesdienst statt“, sagt Faulks. „So viele Kirchen sind in der Vergangenheit in Restaurants, Kneipen oder Konzerthallen umgewandelt worden. Der Templeman-Ausschuß hat voriges Jahr vorgeschlagen, 24 weitere Kirchen zu verkaufen oder dichtzumachen.“ Da hat er die Rechnung jedoch ohne Menschen wie Lylie Faulks gemacht. „Es gab einen Riesenaufschrei“, sagt sie, „und der Bischof von London hat sich die Sache wieder überlegt.“

Für den Erhalt der Kirchen mußten seit 1981 umgerechnet rund 25 Millionen Mark aufgewendet werden. Jetzt will man die Gebäude für Touristen attraktiver machen, damit Geld in die Klingelbeutel kommt. In einem Bericht, der von der Londoner Erzdiözese, der Stadtverwaltung und dem Kulturamt gemeinsam in Auftrag gegeben wurde, heißt es, daß sich eine Stiftung um diese Aufgabe kümmern soll. „Die Kirchen bleiben als religiöse Orte bestehen“, verspricht Jocelyn Stevens vom Kulturamt, „wir wollen darüber hinaus die in den letzten Jahrzehnten geschlossenen Kirchen wiedereröffnen.“ Ob die Touristen allerdings solch große Summen abliefern, die dafür nötig wären, ist mehr als fraglich.

Lylie Faulks zeigt den Ludgate Hill hinauf und sagt: „Wir sind besser dran als andere. Unsere Kirche liegt gleich neben der Kathedrale von St. Paul, zusammen mit dem Tower die größte Touristenattraktion in der City. Das wollen wir ausnutzen.“ Wren hat die Kirchturmspitze von St. Martin's so konstruiert, daß sie, von Osten betrachtet, auf die Kuppel der Kathedrale zeigt. „Früher überragten die Kirchtürme die ganze Stadt“, bedauert Faulks, „heute sind es die Geschäftshochhäuser. Vielleicht findet deshalb niemand mehr den Weg in die Gotteshäuser.“

Viele von ihnen liegen ganz versteckt in Seitenstraßen – zum Beispiel St. Bride's im alten Zeitungsviertel. Die Kirche liegt abseits der Hauptstraße an einem kleinen, dichtumbauten Platz. Aufgrund ihrer Vergangenheit würde sich St. Bride's als Fremdenverkehrsobjekt geradezu anbieten. Kaum ein Ereignis in der englischen Geschichte, das sich nicht irgendwie in dieser Kirche niedergeschlagen hätte. Römer, Kelten, Angeln, Sachsen und Normannen trieben sich hier herum und bauten ihre Kirchen auf den Trümmern der älteren Gebäude. Der sechste Kirchenbau wurde bei der Feuersbrunst 1666 vernichtet, auf Wrens restauriertes siebtes Gebäude fiel 1940 eine Nazi-Bombe.

Als man sich 17 Jahre nach dem Krieg daranmachte, die achte Kirche zu errichten, stieß man unter den Trümmern zufällig auf die Krypten und einen römischen Bürgersteig aus dem zweiten Jahrhundert. Ein Glücksfall für die Vermarktung der Kirche, handelt es sich dabei doch um eins der frühesten Zeugnisse römischer Kultur in London. So hat Kanon John Oates eine Hochglanzbroschüre drucken lassen, in der die Geschichte der Kirche nachgezeichnet wird.

Darin heißt es, daß St. Bride's eine wichtige Rolle bei der US- amerikanischen Unabhängigkeitserklärung spielte. 1764 hatte nämlich ein Blitz den Kirchturm um drei Meter gekappt. George III., der eine Wiederholung des Unglücks verhindern wollte, fragte Benjamin Franklin um Rat. Die beiden zerstritten sich an der Frage, ob der Blitzableiter am oberen Ende spitz oder stumpf sein sollte. Auf der Tafel am Portal der Kirche ist jedoch ein anderes US- amerikanisches Ereignis vermerkt: Dort steht, daß die Eltern von Virginia Dare in dieser Kirche geheiratet haben. Virginia war 1575 das erste weiße Kind, das in Amerika geboren wurde.

Neben dem Hauptportal führt eine schmale Gasse zur Fleet Street. Das kleine Hinweisschild der Kirche fällt angesichts der Geschäftigkeit der Hauptstraße kaum auf. In dem Untersuchungsbericht der Diözese wird denn auch bemängelt, daß die Kirchen nicht genügend ausgeschildert und die Öffnungszeiten nicht deutlich angezeigt seien. Manch ein Gemeindepfarrer hat inzwischen eingesehen, daß er ohne Werbung auf seiner Dienstleistung sitzenbleibt. „Wie verkauft man die Ewigkeit?“ sinnierte ein Bischof noch vor ein paar Jahren. Wie ein Waschmittel, lautet heutzutage die Antwort.

Vor zahlreichen Kirchen findet man nun knallbunte Reklametafeln – manche mit ernstgemeinter Botschaft, wie „Gott ist für das ganze Leben, nicht nur für Weihnachten“; manche kindlich, wie der Cartoon von den weißen Schäfchen auf grüner Wiese mit dem Spruch: „Laß den Herrn dein Hirte sein!“; andere albern, wie der Scheck der „Himmlischen Bank“, der dem Empfänger, einem gewissen „E.I.N. Gläubiger“, eine kostenlose „Reise in den Himmel“ garantiert; und wieder andere ungewollt selbstironisch: „Entgeht dem Weihnachtsgedränge – kommt in die Kirche!“ Damit in den Kirchen wenigstens in den Weihnachtstagen auch ein bißchen Gedränge herrscht, hat man Profis angeheuert. Die berühmte Werbeagentur Saatchi and Saatchi hat eine Anzeige entworfen, in der auf blauem Grund ein typischer Weihnachtstag beschrieben wird: „Truthahn. Geschenke. Fernsehen. Baum. Pudding. Glühwein. Mehr Truthahn.“ Und so weiter. Dazwischen eine gelbe Box: „Mach zu Weihnachten Platz für Gott!“

Von solcher Reklame hält Lylie Faulks nichts. „Hier in der City wohnt ja niemand mehr, den man hereinlocken könnte“, sagt sie, „und auf Touristen würde das eher abschreckend wirken. Nein, Reklame lohnt sich nur in Wohnvierteln.“ Sie drückt mir zum Abschied ein Faltblatt über die Geschichte der Kirche in die Hand. Trotzig heißt es darin: „Diese Kirche blüht und wird uns alle mit Sicherheit bis weit über das zweite Jahrtausend hinaus überleben.“