This flight tonight

■ Mit dem allfreitäglichen „Nachtrock“ im Roten Salon der Volksbühne umarmen sich Rock und Theater noch inniger – unter vaginaähnlichen Deckenleuchten!

Was sich früher ausschloß – „wilder“ Rock und „bürgerliches“ Schauspiel –, macht heute gemeinsame Sache. Seit einiger Zeit sind Elemente von Rock- und Popkultur ein integraler Bestandteil so mancher Theateraufführung. Musiker wie Blixa Bargeld, F.M. Einheit oder Steve Binetti sind, wie es scheint, mehr damit beschäftigt, ihr kreatives Potential Theaterregisseuren zur Verfügung zu stellen, als selbst stinknormale Rockshows mit ihren jeweiligen Bands zu geben. Stellvertretend für andere Bühnen steht für diese Symbiose von Rock und Theater in Berlin die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Aufführungen, etwa von Frank Castorf, sind dort ohne Rockmusik kaum noch vorstellbar.

Umgekehrt gibt es dort seit der Wende auch ganz „normale“ Rockkonzerte im Theatersaal, insbesondere zu österlichen oder weihnachtlichen Feiertagen. Bisher traten dort Bands auf wie Element Of Crime, The Inchtobaktables, The Fall oder auch Blumfeld, deren Jochen Distelmeyer ganz popstarlike damit kokettierte, „ob es denn in einem Theatersaal auch rocken könnte“ – um dann genau dies unter Beweis zu stellen.

Hintergedanke Punk

Konzerte wie das von Blumfeld – oder auch am Heiligen Abend The Fall – firmieren unter der Bezeichnung „Nachtrock spezial“; der eigentliche Nachtrock hat jeden Freitagabend im Roten Salon der Volksbühne seine Heimstatt. Vor der Wende als Theatercafé oder Ort für (manchmal subversive) Lesungen der Literaturszene genutzt, gibt es dort seit dem Beginn der Ära Castorf Rockkonzerte.

Bis dahin gehen die Anfänge auch zurück. Wie Stefan Kruhl, seit Mai zuständig für die Organisation des Nachtrock, erzählt, „war der eigentliche Wegbereiter Carl Georg Hegemann“, früher Dramaturg an der Volksbühne und wie Castorf „alter Rockfan“. Er spielte früher selbst in Bands und war der Meinung, daß Theater pur nicht unbedingt die zeitgemäßeste Kunstform sei, man mit „lauter und schmutziger“ Rockmusik vor allem auch junge Leute anziehen könne. So entstand die Idee des einmal wöchentlich gebotenen Nachtrocks, der zugleich auch den geographischen Gegebenheiten Rechnung tragen sollte – indem man der gesamten Szene am Prenzlauer Berg einen Club installierte, in dem auch Ostberliner Bands ein ständiges Forum bekommen sollten. Das Ganze mit dem Hintergedanken, vielleicht auch Punks mal in einen Theatersaal zu locken.

Mittlerweile hat sich der Rote Salon zu einem angenehm alternativen Auftrittsort entwickelt, gerade in einer Rockclubszenerie, die sich seit Jahrzehnten kaum wesentlich verändert hat und besonders im Westen der Stadt in muffiger Erstarrung verharrt: nicht nur weil die Atmosphäre in dem rotschummrigen Raum mit seinen tiefen Sesseln und Sofas und den vaginaähnlichen Deckenleuchten eine eigentümlich-charakteristische ist, sondern auch, wie Stefan Kruhl weiß, keine Band dort „auf Kasse“ spielen muß, sondern festes, natürlich subventioniertes Auftrittsgehalt bekommt. Direkt assoziiert mit der Volksbühne, werden die Konzerte aus dem Kulturetat des Senats finanziert, kosten nur fünf Mark und ziehen Eingeweihte genau so an wie neugieriges Laufpublikum.

Frei von kommerziellem Druck, ist das Programm des Roten Salons eine Mischung aus altbewährten Berliner Bands, die hier ihr angestammtes Publikum haben, und Acts aus der Gesamtrepublik. Gemeinsam ist ihnen zumeist, daß sie an der Auflösung gemeiner Rockmusikstrukturen arbeiten, wie beispielsweise zuletzt die Zen-Faschisten, die Band Kreidler oder natürlich Mutter. Daß da die Idee von der typischen Prenzelberg-Szene- Location ein bißchen in Mitleidenschaft gezogen wird, wird gern in Kauf genommen – eher ist es so, daß sich auch hier durch das Aufeinanderprallen der verschiedenen Szenekulturen interessante Durchmischungen ergeben.

So ergänzt der Rote Salon ohne emanzipatorische Zwänge bestens das Volksbühnenkonzept der Vielgestaltigkeit: eines der Angebote neben dem als Kulturforum vermieteten Grünen Salon und dem 3. Stock für das Obdachlosentheater (auch für Off-Produktionen oder hauseigene Experimente). Außerdem gibt es hier nicht zuletzt auch ein samstägliches Nachtcafé, wo Lesungen und Chansonabende das Programm abrunden.

Die Rote-Salon-Crew sorgt für eine Form von ganz neuem Kulturtransfer, garantiert mit ihrem meist ausverkauften „Nachtrock Spezial“ im großen Theatersaal für die vom Senat vorgeschriebene siebzigprozentige Auslastung – und damit für den Fluß der Gelder. So dient ein Konzert wie das von The Fall nicht nur der Reputation, sondern auch ganz profanen Zwecken.

Ob diese Art von Kulturzentrum und -austausch auch woanders funktioniert, wird man übrigens bald aus Bochum hören, wo Carl Georg Hegemann mittlerweile seiner Arbeit als Dramaturg nachgeht – und zusammen mit Tom G. Liwa von den Flowerpornoes am dortigen Schauspielhaus eine Spielstätte für Rockbands angegliedert hat. Gerrit Bartels