Diese bekannten Klänge

Der Tango ist aus den mondänen Ballsälen der Alten Welt, wo er in den zwanziger Jahren Triumphe feierte, in die Kneipen des argentinischen Volkes zurückgekehrt. Auf die Suche nach dem wahren Tango machte sich in Buenos Aires  ■ Manfred Schmidt

Kaum hatte ich Gewißheit, daß ich meine nächsten Lebensjahre in Buenos Aires verbringen sollte, begann ich mich vorzubereiten: Ich lernte Spanisch und hörte Tangos, gesungen von Roberto Goyeneche und Adriana Varela, denn ich war begierig, das Lebensgefühl dieser Stadt am anderen Ende der Welt zu erfahren. Die Texte erzählten vom alltäglichen Leben auf den Straßen und Plätzen der Stadt, sie waren voller Schwermut, mal glorifizierend, mal anklagend, mal verträumt.

Als ich dann in Buenos Aires ankam, schlug mir ein anderer Rhythmus entgegen, der der Rhythmus aller Großstädte ist: Hektik, Rock, Techno, MTV, Internationalismus. Tango also nur nur noch als Nostalgie, als Reminiszenz vergangener Glorie, wie er an bestimmten Orten gut zahlenden Touristen vorgeführt wird? Vor den einschlägigen Lokalen in San Telmo parken nachts die Busse, ein unverzichtbarer Programmpunkt jeder Stadttour.

Carlos Gardel ist das unerreichte Idol

Erst nach und nach entdeckte ich sie, nachts durch die Straßen wandernd. Die kleinen Läden, die ein geheimnisvolles Licht ausstrahlen, in dem sich dunkle Gestalten bei einer Büchse Bier über wer weiß was unterhalten, dem Fremden bedrohlich und anziehend zugleich. Die alte Frau von nebenan sitzt hier Abend für Abend am selben Tisch und ißt immer das gleiche. Tangogefühl, und dann diese bekannten Klänge, die neben den Fußballübertragungen aus den Transistors der porteños (Einwohner von Buenos Aires) dröhnen, ohne Unterbrechung beim Einstieg in ein Taxi: Tangoradio.

Tango erfährt in diesen Zeiten der Rezession eine Renaissance. Aus den mondänen Ballsälen der Alten Welt, in denen er in den zwanziger Jahren seine Triumphe feierte, ist er zurückgekehrt in die Stuben und Kneipen des argentinischen Volkes.

Solo Tango

Seit September hat sich, neben dem Tangoradio, im Kabel-TV- Netz mit 65 Kanälen das Programm „Solo Tango“ etabliert. Jeden Tag 24 Stunden lang leben die Größen des Tangos wieder auf: Astor Piazzolla, Roberto Goyeneche und Carlos Gardel, das unerreichte Idol. Am 24.6.1935 kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben; Tausende huldigen ihm alljährlich an seinem Todestag, dem Tag des Tango, an seinem Grab auf dem Chacarita-Friedhof in Buenos Aires.

Neuer Tango

Der Tango selbst lebte weiter, auch als während der Militärdiktatur etliche Texte, die den Machthabern diffamierend und zu pessimistisch erschienen, verboten wurden. Viele tangueros gingen ins Exil, unter ihnen der Bandoneonist Juan José Mosalini, der heute in Paris lebt und als einer der führenden Vertreter des neuen Tango in Europa gilt. Neue Strömungen erhielt der Tango vor allem durch Astor Piazzolla (1921–92), der Verbindungen zum Jazz und zur Klassik schuf. Eine Art moderner Kammermusik entstand. Klassische Einflüsse brachte auch Atillo Stampone ein, Jazzeinflüsse kamen durch Dino Saluzzi, und die „Generation Zero“ (mit Rodolfo Mederos, Daniel Binelli und Mosalini) adaptierte Instrumente aus der Rockmusik. Das war nicht mehr Tango, das war Musik aus Buenos Aires. Was blieb, war der typische, unregelmäßig synkopierte 4/8-Takt.

Alter Tango

Entstanden ist der Tango um 1880 in den Hafenvierteln von Buenos Aires, der Boca und Doque Sur. Die Immigration hatte zu einer Bevölkerungsexplosion geführt, und der Männerüberschuß ließ Prostitution und Vergnügungsetablissements aufblühen. Wahrscheinlich entwickelte sich der unverkennbare Rhythmus aus der Candombe, einer 2/4- taktigen Tanzprozession, und der sentimentalen Musik der kubanischen Habanera, nicht unbeeinflußt von der italienischen Folklore. Die Tanzfiguren – die Hände auf dem Körper des Partners – und die anrüchigen Texte galten dem Bürgertum als obszön. So fristete der Tango sein Dasein in den Kaschemmen und Bordellen der Hafenviertel. Davon zeugen die ersten Kompositionen wie „El Queco“ (Der Puff) oder „Dama de lata“ (Tanzdame zum Mieten). Nach den anfänglichen Instumentierungen mit Geige, Flöte und Harfe übernahm dann das Bandoneon (erfunden im Jahr 1840 von Heinrich Band aus Krefeld) die führende Rolle. Erst die Erfolge in den Ballsälen von Paris und Berlin machten den Tango schließlich auch in Buenos Aires salonfähig.

Wahrer Tango

In der Cafeteria der Gandhi-Bücherei in der Avenida Corrientes stieß ich auf eine seiner Urformen. Jeden Donnerstag ab 23 Uhr singt Carlos Cardei, Jahrgang 1945. Seit er 15 ist, singt er Tango, und seit 20 Jahren begleitet ihn dabei Antonio Pisano auf dem Bandoneon.

Der Barmann Pablo klärt mich auf: „Während der Show kostet jeder Drink 15 Pesos“ (etwa 21 Mark). Er selbst, mit seinem zerfurchten, hageren Gesicht und halblangem, pomadisiertem grauem Haar, scheint einer Hafenkneipe des vorigen Jahrhunderts entsprungen – Gaucho, Gauner, Gigolo.

Neugier treibt mich voran. Durch die halbhohen Trennwände schwingt der Geist meterhoch gestapelter Literatur herüber, Bestseller, Nobelpreisträger, Wissenschaft. Es ist nicht leicht, einen Platz zu finden in Carlos Cardeis eingeschworener Gemeinde. Dicht drängt man sich an kleinen Tischen um die freie Stelle, die die Bühne ist. Dann erscheint er, gewiß keine Schönheit, von einer Krankheit früher Jahre gezeichnet, die ihn jedoch Brust und Stimme gut entwickeln ließ. Er begrüßt sein Publikum, nein, nicht Publikum: seine Freunde. Mir wird klar, daß ich der einzige bin, der das erste Mal hier ist.

Der Zauberer singt, schluchzt, wimmert

Nach einem Bandoneon-Intro legt er los, singt, schluchzt, wimmert. Mit geschlossenen Augen, schweißnasser Stirn, ganz Stimme, jedes Wort erleidend, freudvoll erfahrend. Die Damen in meiner Nähe bewegen die Lippen zum Text, kennen jede Passage, und hier und da meine ich im intimem Halbdunkel das Glitzern einer einsamen Träne auszumachen, die über das Make-up rollt.

Frenetischer Applaus und Bravo-Rufe fordern von ihm immer neue Lieder. Irgendwann spät in der Nacht endet er, bewegt sich mühsam zu seinem Tisch in der Ecke, wo er in sich zusammensinkt. Wie abwesend nimmt er die Gratulationen seiner Freunde entgegen; er hat alles gegeben, uns das Leiden erfahren zu lassen, und zugleich Hoffnung auf ein besseres Morgen entfacht. Ein Zauberer!

Manfred Schmidt ist seit Dezember 1994 als ARD-Kameramann in Südamerika tätig.