Lob der Oberfläche

■ Feine Balance zwischen Raum und Bild: Mit "Tragfläche" zeigt das Museum Bochum die Rückkehr zur konkreten Kunst

Über die raffinierten Bildkonstruktionen von Frank Stella ist über die Jahre gehörig philosophiert worden. Hält man sich an die Worte des Meisters selbst, liest es sich viel prägnanter: Seine Arbeiten „versuchen, die Grenze zwischen gemaltem und wirklichem Raum durcheinanderzubringen“. Bei diesen Versuchen ist man inzwischen ein gutes Stück weitergekommen, wie ein länder- und zeitübergreifender Überblick im Museum Bochum nahelegt. Die Ausstellung „Tragfläche“ präsentiert 22 Künstlerinnen und Künstler und damit recht unterschiedliche Wege, wie die von Stella beschriebene Grenze zu überschreiten sei. Stella selbst ist mit einer „Shaped Canvas“ in der Bochumer Schau vertreten; nebem ihm stehen die Arbeiten meist jüngerer Jahrgänge. Außerdem dabei: Josef Albers und Reiner Ruthenbeck, Lucio Fontana und die Brüder Maik & Dirk Löbbert – wie soll das alles zusammengehen?

Bestens, und recht spannungsreich. Gerade in der auf den ersten Blick gewagten Zusammenstellung erweist sich die Internationalität der konkreten Kunst als Produkt ihrer Geschichte: Schließlich brachten europäische Emigranten die Bauhaus- und De-Stijl-Ideen in die Staaten. Hier lernten Mondrians sorgsam ausponderierte Raster den Boogie-Woogie tanzen; hier siedelte sich der Russe Mark Rothko mitsamt seinem russisch- orthodoxen Katholizismus an; und von hier aus segelten die weitergedachten Ideen des Transzendentalismus rund um den Globus, auch mit Rückkurs nach Europa.

So finden sich Mitte der 90er Jahre alle Protagonisten in einem Raum wieder. Aber nicht auf einem Nenner. Das Problem der ästhetischen Grenze zwischen Illusions- und Realraum hat sich längst zu einer weit aufgefächerten Problemstellung für die Kunst entwickelt. Sind die schweren Glasscheiben, die der New Yorker Russell Maltz voreinander montiert, überhaupt noch „Paintings“, wie der Titel vorgibt, oder nicht schon raumgreifende Plastiken? Sind die Wachsschichten, die Willi Otremba (Dortmund) mit bewegtem Duktus auf seine weitgespannten Glasflächen aufträgt, eher materiale Energieträger oder künstlerische Markierungen im Raum – im realen wie im geistigen? Die nüchterne Bilanz ergibt, daß alle Arbeiten halt „einseitig und oberflächlich“ sind – das sollte ursprünglich sogar der Titel der Ausstellung werden; dann aber bekamen die braven Museumsleute ein bißchen kalte Füße. Ergiebiger als Fragen an einzelne Werke und Künstler sind ohnehin die Beziehungen unter den Werken im weiten Raum des Museums. Die schweren Scheiben von Maltz, an einem einzigen Punkt, einem einzigen Stahlstift an der Wand befestigt, thematisieren das reale Gewicht des Materials (hier: Holz) im Verhältnis zum optischen Gewicht der Farbe (schwarz). Um die Ecke aber lehnen Otrembas Glasscheiben an der Wand und fragen zurück: Was heißt hier überhaupt „Gewicht“? Alles scheint bei ihm von großer Leichtigkeit – der Materialträger (durchsichtiges, dezent grün schimmerndes Glas) ebenso wie die Farbe (hellblau gefärbtes Wachs, in dünnen Schichten aufgetragen). Scheinbar ein elementarer Gegensatz zu Maltz' schwer lastenden Tragflächen. Und doch weist auch Otrembas filigrane Kunst in die gleiche Richtung. Das Glas kann als schwer und leicht zugleich erlebt werden, die Enkaustik als konkrete Malerei und ebenso Verweis auf immaterielle, geistige Bezugsflächen. Womit wir wieder bei Serra angelangt wären und der Frage nach der Grenze zwischen Kunst- und Realraum.

Der Unterschied zu den 70ern ist jedoch: Hier und heute wird nichts mehr „durcheinandergebracht“. Arbeiten wie die von Otremba wirken sehr konzentriert und entschieden, eben als „essentielle Malerei“, wie Matthias Bleil es vor ein paar Jahren zusammengefaßt hat. In enger Beziehung zueinander stehen auch die Arbeiten von Reiner Ruthenbeck und Antje Smollich, deren Arbeiten nicht von den Grenzen, sondern von der Dynamik der Zustände erzählen.

In einer Art Langzeit-Testreihe spannt Ruthenbeck seit Jahren immer wieder Flächen auf die Folter. Vorzugsweise rote Stoffbahnen werden mit Gewichten strapaziert. Bis zum Reißen straff spannt sich auch das Tuch seines Bochumer Beitrags, eine Stahlplatte und die allgemeine Erdenschwere helfen mit. Dieser Kunstgriff besitzt in seiner genialen Schlichtheit stets etwas Elegantes und Einleuchtendes. Ein gravitätischer Gestus, den die viel jüngere Antje Smollich umkehrt. Mit großer Lust am Experiment (und damit am grandiosen Scheitern) klebt sie Plexiglas- und Spanplatten aufeinander, zusammengehalten durch ein äußerst unberechenbares Bindemittel – Künstlerfarbe. So geraten ihre gewichtigen Flächen ins Rutschen. Die Farbe wird dabei förmlich zerquetscht und verschmiert zwischen Smollichs Tragflächen. Ständig glaubt man, die Platten müßten abschmieren, um endgültig auf dem Fußboden der Tatsachen zu landen. Aber noch halten sie ihre delikate Balance, zwischen Stillstand und chaotischer Bewegung.

Nicht alle Arbeiten lassen sich auf solche Weise zueinander in Beziehung setzen. Manches bleibt unverbunden im Raum stehen beziehungsweise zwischen Raum und Fläche. Aber das Wagnis dieser Ausstellung hat sich schon gelohnt, wenn nur einige Affinitäten unter den hier gezeigten Positionen wahrgenommen werden, wenn deutlich wird, welche Feinheiten hinter den scheinbar „einseitigen und oberflächlichen“ Arbeiten lauern. Das Wagnis war um so größer, als hier einer der Künstler selbst, Otremba, als Gastkurator des Museums fungierte. Der Dortmunder Maler hat jedoch nicht den Fehler gemacht, die übrigen Arbeiten quasi als Beleg seiner Thesen hübsch um die eigenen zu gruppieren. Diese ungewöhnliche Konstellation könnte sogar zum Modellfall werden. Der Westdeutsche Künstlerbund, dem Otremba angehört, wird sich im neuen Jahr jedenfalls schon mal mit einem eigenen Büro dauerhaft im Museum Bochum einrichten. Thomas Wolff

„Tragfläche“, bis 14.1. im Museum Bochum. Der Katalog (Edition Braus) kostet 38 Mark