Vereinsamte Musik

Jahresende 1995. Dasitzen, die Vorabkassette der zweiten Platte der Easy-Listening-Band Combustible Edison hören und zwischen belustigter Nostalgie und Ekel herauskristallisieren, warum trotz all des vielen Kultur-Konsums das Erfahrene auch dieses Jahr weiter an subjektiver Relevanz verloren hat. Dabei ist der kleine, immer noch nicht tote Trend Easy Listening als Anstoß behilflich. Denn er kündet am offensichtlichsten von Kultur als Synonym für Unterhaltung. Die Zeit von arbeitsaufwendigen Erfahrungen ist, parallel zu den realen Schrecken der Gegenwart, auch im kaum noch auszumachenden Underground vorbei, und auf der Flucht vor vermeintlich unentwirrbarer Komplexität wird in Kultur Ablenkung gesucht.

Nein, von dem fortschreitenden Grauen aus Hamburger Radiosendern soll hier gar nicht erst gesprochen werden. Denn auch die besten der wohlklingenden Konzerte wie Tricky oder Little Axe kündeten letzten Endes nur vom Status quo der gepflegten Langeweile. Gleichzeitig gab es unter den vielen auseinandersprengenden Realitäts-Fluchtversuchen auch einige wahrhaft befremdliche Veranstaltungen. Goldie in der Sporthalle zum Beispiel oder die Ansammlung von Knopfdrehern beim „Electronic Species“-Wochenende in der Markthalle. Beides ziemlich deplazierte, handwerklich hochstehende Entwürfe einer ebenso technisierten wie vereinsamten Musik, die von einem diffusen neuen Zeitalter kündet, nach viel klingt und wenig sagt. Die Stimmung in den Hallen hatte den unmittelbaren Charme von Parties im Internet und gab Beispiele für mögliche Gefühlsvariationen im Informationszeitalter.

Gerne wurde auch in diesem Jahr aus einem, elektronische Musik statt als Anregung zur Religion erhebenden, geschichtslosen Blickwinkel heraus in jedem reaktionären Scheiß Revolution vermutet. Doch elektronische Musik hatte auch gute Folgen. So erlebt die häusliche Musikproduktion in seinem Fallout ein neues Hoch, und vielerorts erkennen Menschen, was alles Klang ist, und generieren durch die Entwicklungsstufen Technowahn und/oder Esoterik erste Eigendefinitionen.

Allerdings war 1995 in diesem Bereich noch ein Jahr von viel Bewegung und wenig Standpunkt, und echte Erlebnisse trugen andere, altbekannte Namen. Caspar Brötzmann beging einmal mehr die Todsünde, seine musikalische Aussage zu wiederholen, und schämte sich nicht, einfach intensive Gefühle zu transportieren. Ähnlich die vielköpfige Formation God, die sich im improvisierenden Schichtenprinzip nahe an den totalen, allumfassenden Klang spielten. Im Erhabenen weder faschistoid noch tot. Das war's so ziemlich.

Immerhin: Nächstes Jahr wird alles besser. Dann wird der Schmerz der ästhetisierten Leere zu groß und wieder produktiv umgesetzt, Techno differenziert sich in ein paar auch diskursiv spannende Äste hinein, und Kultur wird in der taz (wo sonst?) mehr auf ihren Inhalt untersucht.

Holger in–t Veld