Fünf Tage im November

Der 27. Januar, Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, soll Gedenktag werden. Ein Gegenplädoyer  ■ von Peter Reichel

Bund und Länder möchten der Republik zum Jahreswechsel ein Geschenk der besonderen Art präsentieren. Zwar sind die Kassen leer. Auf materiellen Segen darf das Wahlvolk also nicht hoffen. Aber es bekommt etwas, das seinem Gewissen guttun und die Staatssymbolik vorteilhaft bereichern soll: einen nationalen Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Schon im neuen Jahr soll dieser Gedenktag erstmals begangen werden. Die Wahl ist auf den 27. Januar gefallen, den Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Gewiß nicht ohne Bedacht. Zumal es im Europäischen Parlament Bestrebungen gibt, dieses Datum zum Holocaust- Gedenktag der EU-Staaten zu machen. Da will Bonn nicht abseits stehen. Doch der Tag steht uns zur symbolischen Nutzung nicht zu. Auf diesen Tag können wir uns nicht berufen. Er gehört den Befreiern, vor allem aber den überlebenden Juden.

Ein Gedenktag für den Widerstand

Diese haben sich allerdings seit langem für einen anderen nationalen Gedenk- und Feiertag entschieden. Schon 1951 beschloß die Knesset, den Jom HaShoah auf den 27. Nissan zu legen. Zwischen Ende April und Anfang Mai hatten in den vergangenen Jahrhunderten viele Massaker an den europäischen Juden stattgefunden, vor allem in der Zeit der Kreuzzüge. Und in der Nacht auf Pessach, am 19. 4. 1943, begann der Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto, die einer erdrückenden SS-Übermacht 27 Tage lang Widerstand leisteten. Das israelische Parlament gab der Shoah so die Bedeutung von Katastrophe und Wiedergeburt beziehungsweise Heldentum und machte diese Deutung zu einem Element der israelischen Erinnerung.

In der deutschen Debatte um einen Holocaust-Gedenktag war auch vom 20. Januar die Rede, dem Tag der Wannseekonferenz, auf der 1942 führende Nazis und hohe Ministerialbeamte das längst begonnene Massenmorden in Ostmitteleuropa, die Endlösung der Judenfrage, koordinierten. Dieses Datum steht für den bürokratisch- technischen Ablauf der Gewaltverbrechen; es betont vor allem die Rolle der Schreibtisch-Täter. Untauglich als Gedenktag für die Opfer ist auch der in diesem Jahr verschiedentlich vorgeschlagene 8. Mai. Als Befreiung haben ihn nur jene erlebt, die in den Lagern überlebten. Als Tag des Kriegsendes symbolisiert er das Ende der Zerstörungen und des Massensterbens ganz allgemein. Die Erleichterung darüber machte deshalb fast zwangsläufig alle Toten zu Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft. Diese Deutung war für die Gemeinschaftsbildung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft vorteilhaft. Sie begünstigte die kollektive Amnesie und Amnestie. Für die Verfolgten und Überlebenden aber ist die Nobilitierung der toten Täter zu Opfern so inakzeptabel wie die Nivellierung ihres eigenen Opferstatus.

Weder der 8. Mai noch der 20. Januar ist uns als Gedenktag angemessen, und der 27. Januar oder ein Datum der anderen Lagerbefreiungen ist es noch weniger. Wir, die heute lebenden Deutschen, können uns nicht umstandslos einen Erinnerungstag der Verfolgten zu eigen machen. Wir stehen in der Nachfolge unserer Vorfahren, der Täter und Gehilfen, der Mitläufer, Zuschauer und Wegseher. Will sich die Rückbesinnung unserer Republik auf ihren Entstehungsgrund nicht nur selbstversöhnlich zelebrieren und in billigem Betroffenheitsritual erschöpfen, dann muß sie sich öffentlich mit dem Zusammenhang von Machtfaszination und Gewaltbereitschaft, von nationalem Größenwahn, Fremdenhaß und Massenmord auseinandersetzen. Dann muß sie den 9. November (1938) wählen. Das Datum steht für den Auftakt der deutschen Gewaltverbrechen, die in der modernen Menschheitsgeschichte ohne Beispiel sind. Zugleich verweist es auf deren unübersichtliche Vor- und unabgeschlossene Nachgeschichte.

Dieser Tag erlaubt, das Jahrhundert der Deutschen wie durch ein Brennglas zu sehen. Unser öffentliches Totengedenken würde auf einen komplexen Zusammenhang verweisen, auf den von Revolution und Gegenrevolution, von Kontinuität und Bruch, von Anpassung und Widerstand, von Zusammenbruch und Niederlage, Teilung und Vereinigung, Wandel und Erneuerung. Denn mit dem 9. November verbinden sich gleich fünf bedeutungsvolle Ereignisse und Erinnerugen.

Erstens die Erinnerung an Kriegsniederlage, Kaiserabdankung, Parlamentarisierung der Reichsverfassung und Revolutionsbeginn. Lange war umstritten, ob man von Zusammenbruch oder Revolution sprechen soll. Heute ist zumeist von einer Revolution die Rede, die auf halbem Wege steckenblieb. Jedenfalls versäumte sie, ihre wichtigste Errungenschaft, die parlamentarische Demokratie, gegen ihre Feinde auf der Rechten zu sichern. In dieser Zeit hat der maßgebliche politische Akteur jener Zeit, die Sozialdemokratie, die schwersten Fehler gemacht. So hieß es später in dem von Rudolf Hilferding entworfenen Prager Manifest der Exil-SPD.

Zweitens die Erinnerung an Hitlers Putschversuch 1923 in München, der „die Revolution der Novemberverbrecher“ rückgängig machen sollte. Hitler scheiterte. Aber er verwandelte seine Niederlage in einen propagandistischen Sieg, indem er sich vor Gericht als nationaler Märtyrer darstellen konnte. Dieser Tag steht seither für den permanenten inneren Belagerungszustand der Republik, für die Gefährdung der Demokratie von rechts.

Drittens die Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November. Es gab Hunderte Todesopfer. Etwa 30.000 Juden wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen gebracht. Der vorgeblich „spontane Volkszorn“ hatte Tausende jüdischer Geschäfte zerstört und Fensterscheiben im Wert von mehreren Millionen Reichsmark („Reichskristallnacht“). Tatsächlich war dem Pogrom eine antijüdische Pressekampagne vorausgegangen. Und Goebbels gab dann das Zeichen zur „Vergeltung“, als bei der in München versammelten NS-Führung die Nachricht eintraf, daß der deutsche Diplomat Ernst vom Rath dem Attentat durch Herschel Grünspan erlegen war. Dieser Tag gilt inzwischen als Beginn der „Endlösung“ und deshalb als ein Tag von weltgeschichtlicher Bedeutung.

Stete Erinnerung an das Scheitern

Viertens das gescheiterte Hitler- Attentat von Johann Georg Elser vom 8. November 1939, das allerdings in unmittelbarem Zusammenhang mit dem 9. November steht. Am Vorabend des Jahrestages zur Ehrung für die „Gefallenen der Bewegung“ hatten sich die „alten Kämpfer“ im Münchener Bürgerbräukeller versammelt, um Hitlers Rede und die erwartete Kriegserklärung an den Westen zu hören. Nur durch einen Zufall entging Hitler dem Attentat. Als die Bombe explodierte, die mehrere Menschen das Leben kostete, hatte er das Lokal bereits verlassen. Elsers Tat ist bis heute deshalb so unpopulär und politisch kaum zu vereinnahmen, weil er ein unbequemes „Gegenbild“ verkörpert. Weil er als einzelner dem „kollektiven Selbstbetrug und Faszinationswahn“ (Peter Steinbach) seiner Zeit widerstand, weil er gezeigt hat, daß Widerstand möglich war, auch für einen einzelnen, für einen, der ohne organisatorischen Rückhalt handelte, ohne materielle und intellektuelle Privilegien.

Fünftens schließlich der spektakuläre Fall der Mauer, der 9. November 1989, der inzwischen für vieles steht und viele schmückende, die Geschichte wie immer verzerrende Beiworte erhalten hat. Da ist – halbwahr – von der „friedlichen Revolution“ die Rede oder von der „Selbstbefreiung der Deutschen“ und natürlich vom „Endsieg“ über den Kommunismus. Vor allem aber: Mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit ist die womöglich „kränkendste Kriegsfolge“ (M. Schneider) aufgehoben. Kaum verwunderlich also, daß es bald nach dem Mauerfall eine breite Zustimmung für dieses Datum als neuen nationalen Feier- und Gedenktag gab. Befürworter fanden sich links wie rechts. Aber auch zahlreiche Einwände wurden vorgebracht, insbesondere der, daß es zu Peinlichkeiten und Skandalen kommen würde.

Das wäre zumindest ehrlich. Unsere Geschichte ist voller Skandale. Der 9. November als nationaler Gedenk- und Feiertag würde eine Chance bieten zur Selbstverständigung der Deutschen über ihre Herkunft aus zwei halben Revolutionen, mißglücktem Widerstand, Kriegszerstörung und Fremdbefreiung. Unserem nationalen Gedächtnis wäre eine institutionelle Stütze gegeben. Die kollektiven Erinnerungsaktivitäten hätten einen Rahmen und eine Richtung. Das jährliche Gedenkritual bekäme einen gedanklichen Zusammenhalt. Wir müßten über die Höhen und Tiefen unserer Geschichte reden, über Brüche und Widersprüche, über ein Jahrhundert im Zusammenhang, zusammen, Jahr für Jahr.

Der 27. Januar zwingt uns dazu nicht. Er ermöglicht uns aber, statt dessen in die bequeme und behagliche Rolle des Opfergedenkens zu schlüpfen. Wie angemaßt und wie heikel diese Rolle ist, hat uns das zu Ende gehende Gedenkjahr 1995 drastisch vor Augen geführt. Es ist leichter, weil ästhetisch genußvoll, emotional erhebend und dem nationalen Image förderlich, der toten Opfer zu gedenken und sich selbst in der Pose der Opfergemeinschaft darzustellen, als den lebenden Opfern beizeiten zu helfen.

Schon einmal ist der Versuch gemacht worden, an einem Tag ein mehrfaches Gedenken zu bündeln. Der damalige Bundesinnenminister Gustav Heinemann machte 1950 dem Kabinett – vergeblich – den Vorschlag, am ersten Sonntag im September die Erinnerung an die NS- und Kriegsopfer mit der Verfassungsfeier und dem Gedenktag für die deutsche Einheit zu verbinden.

Dem neuen, verfassungspatriotisch definierten Staatsverständnis der Bonner Republik hätte als Staatsfeiertag der 23. Mai entsprochen, der Tag, an dem das Grundgesetz in Kraft trat. Er blieb blaß und unpopulär. Und es ist zu befürchten, daß der 3. Oktober dieses Schicksal teilen wird. Der Tag der deutschen Einheit ist schon jetzt so blaß, so emotionslos, so wenig inspirierend, wie es Akte notarieller Beglaubigung nun einmal sind. Das Herkunftswissen unserer Republik umschließt das Wissen um Tod und Schuld – und vielleicht die Einsicht in deren historische Ursachen. Zur öffentlich wirksamen Darstellung dieses Wissens und dieser Einsicht ist der 3. Oktober so unangemessen wie der 27. Januar. Als nationaler Gedenk- und Feiertag kommt am Ende dieses Jahrhunderts nur ein Datum in Betracht: der 9. November!

Der Autor lehrt Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Hamburg und hat kürzlich ein Buch zum Thema veröffentlicht: „Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit“, Carl Hanser Verlag, München