Die Krone der Zahlungsfähigkeit

Im kommenden Jahrtausend wird es statt Dollars und Markstückchen nur Net Cash oder eMoney geben – die schönen Scheine der Virtualität  ■ Von Thomas Worm

Der Mann kannte Visacard noch nicht. Trotzdem erkannte Oscar Wilde mit der Hellsichtigkeit des Dandys schon im letzten Fin de siècle: „The basis of civilization is unlimited credit.“ Nicht Geld schmiert die Welt, sondern gutgeschriebene Summen. Die Kreditkarte, dieses elektronisch melkbare Stück Plastik, kann mit Fug und Recht als vorläufige Krönung privater Zahlungsfähigkeit betrachtet werden. Ob ausufernde Restaurantbesuche oder Schuhboutiquenbummel, nicht der – leider ständig – schrumpfende Bestand an Münzen und Scheinen garantiert die Konsumfreuden, sondern ein unverbrauchbares Rechteck: die Karte.

Das Anstatt-Bargeld aus Kunststoff ist keineswegs nur gegen Diebstahl abgesichert und stets griffbereit. In seiner gleich bleibenden Größe trotzt es vor allem der Vorstellung vom Geldausgeben. Wer als Karten-User lebt, empfängt, ohne etwas dafür fortzugeben. Unterdessen gewährleistet die persönliche Kreditlinie die Validität der Karte. Man neigt zum Überziehen, und der Dispo macht's möglich. Später dann, wenn diese eine Karte oft genug gespielt wurde, bezeugen nur noch Ziffern auf den Kontoauszügen die Geldausgabe. Abstrakte Symbole, im Unterschied zu zerknitterten Fünfzigmarkscheinen und abgewetzten Groschen. Geld zerrinnt nicht mehr zwischen den Fingern. Ein entscheidender psychischer Vorteil, der nicht unbedingt glücklich macht, aber immerhin beruhigt. Oder stehen über 670 Millionen Kreditkarten weltweit für einen Irrtum?

Und die übrigen Milliarden Käufer und Kunden, die Benutzer von knisternden Pfundnoten, von blanken Dimes und Nickels, von Dirhamlappen und Rubelbündeln? Auch sie werden sich längerfristig auf das Verschwinden des Bargeldes einstellen müssen. Die aufladbare Chipkarte soll Kleingeld und Wechselgeld überflüssig machen. Anstelle von Markstücken und Dollarscheinen zirkulieren dann Stromimpulse. Freilandversuche mit rein elektronischem Zahlungsverkehr laufen rund um den Globus an, im englischen Swindon, in Australien und auch in Ravensburg. Die Namen, die in Verbindung mit der künftigen Elektro-Valuta fallen, sind ebenso künstlich wie die Idee einer allgültigen Computerwährung an sich, eMoney, Net Cash, Mondex oder Cartemonnaie. Schon im nächsten Jahr will zum Beispiel Eurocard alle neu ausgegebenen Kreditkarten mit einem Silikonchip versehen, der mit bis zu 400 Mark immer wieder aufgeladen werden kann. Gezahlt wird wie bei der Telefonkarte: durch den Schlitz des Lesegeräts schieben – und fertig. Keine Unterschrift, keine Geheimzahl. 3,45 Mark für die Croissants beim Bäcker werden im elektronischen Geldnetz pfenniggenau abgebucht. Nichts mehr mit „rausgeben“.

Sollte das elektronische Geld nach der Jahrtausendwende obligatorisch durch die Netze zucken, werden zahllose kleine Rituale des Alltags verschwinden. Und zwar alle, die auf dem haptischen Charakter von Fuffzigern und Zwickeln, Braunen und Blauen beruhen. Das Schlachten des Sparschweins, Sammeln für die Kaffeekasse und das Hervorkramen von Silbergeld für Schnorrer – alles verblassende Erinnerungen. Auch der säuerlich-metallische Geschmack von Münzen, wie Kinder ihn kennen, die sich probeweise einen Fünfer auf die Zunge schieben.

Für Geldfetischisten brechen lustlose Zeiten an. Dagobert Ducks Bäder im Talermeer oder das Barrenfieber von Goldfinger werden bei den Kids der nächsten Epoche nur Achselzucken auslösen. Taschengeld – für sie nur ein paar schwindende Zahlen auf den Displays ihrer Juniorcards. Das Abzählen von Hunderter-Stapeln mit befeuchtetem Daumen, die Geldkofferträume von Möchtegernaussteigern kennen sie allein aus den Erzählungen nostalgischer Schwärmer. Zugleich könnte ein Volk von betagten Numismatikern in Schachteln und Vitrinen die gute alte Zeit der Bargeldmünzen aufbewahren, hegen und pflegen. Das Flimmern und Flackern auf den Bildschirmen, das ja Geld darstellen soll, wird gerade die Älteren stets aufs neue an das ungewisse Schicksal ihrer Guthaben im Labyrinth der Datenhighways denken lassen. Das hat Folgen. Da Menschen ziemlich handgreiflich veranlagt sind, werden in der Ära erdumspannenden Plastikgeldes jene, die es sich leisten können, die Flucht in Sachwerte antreten. Jede Immobilie ein individuelles Fort Knox, ein kosmopolitischer Sparstrumpf.

Natürlich versuchen die Ziehväter von Multimedia, der Entsinnlichung entgegenzuwirken, die mit dem Verschwinden des Bargeldes einhergeht. Schon heute stellt die kalifornische Cyberbank im Internet sich mit optischer Broker-Folklore zur Schau: Durch eine geöffnete Tresortüre sehen die Interessenten aufgeschichtete Goldbarren schimmern. Fehlt noch ein Soundschnipsel voller Münzenklimpern und ein 20-Sekunden- Clip, wo flinke Hände mit 1.000-Dollar-Noten Daumenkino spielen. Doch auch das wäre nur fader Ersatz für den greifbaren Charme eines druckfrischen Scheinchens.

Alle Versuche, dem unsichtbaren elektronischen Geld sinnliche Prothesen zu verpassen, können eines gewiß nicht aus der Welt schaffen: den abstrakten, den symbolischen Gehalt, der Bargeld (wie überhaupt jeder Geldform) von Natur aus anhaftet. Alles Monetäre entstammt einer fiktiven Sphäre. Oder anders ausgedrückt, Geld ist die „rein phantastische Form“ der Waren und Dienstleistungen, das „Jenseits außerhalb der wirklichen Elemente des gesellschaftlichen Reichtums“. Richtig, klingt nach Marx. Geld sollte als universales Tauschmittel den Spiegel der realen Vermögenswerte darstellen. Deshalb ist auch die Inflation so unbeliebt. Denn wo sie herrscht, fehlen dem „Zeichen Geld“ die materiellen Entsprechungen. Die Abbildung stimmt nicht.

Wird nun das Bargeld ins pekuniäre Nirwana des Cyberspace überführt, entsteht also aus Scheinen und Münzen überall der digitale Code des eMoney, dann wird gewissermaßen der Spiegel nochmals abgespiegelt. Um es mit einer Trendvokabel zu sagen: elektronisches Geld ist doppelt virtuell. Als Abbild gesellschaftlicher Ressourcen und als digitales Abbild dieses Abbildes. Die materielle Realität verhallt in der Unendlichkeit, ein infinitives Pingpong wechselseitiger Wiedergabe. Gedoppelte Virtualität ruft ein merkwürdiges Verblassen des Empfindens hervor, als sei das gesamte Erleben in ein abklingendes Echo abgetaucht.

Diese Interpretation mag manchen überzogen erscheinen. Nichtsdestotrotz, wenn sich das Bargeld zugunsten allseits zitierter Bits und Bytes auflöst, gestaltet sich der Umgang mit dem an sich schon Mittelbaren – nämlich Geld – nochmals mittelbarer. Werden Lire oder Yen noch aus Metall und Papier gemacht, so besteht Net Cash aus winzigen, lichtschnellen Energieimpulsen. Bisher tauschten Verbraucher ihre Barschaft gegen Strümpfe, gegen Klopapier, gegen einen Saunabesuch. Zwischen Daumen und Zeigefinger konnten sie den Gegenwert der Dinge und Leistungen spüren, er war ihnen vertraut, und sie mußten ihn hergeben. Nun fallen Kauf und Zahlung auseinander. Das Gefühl für die eigentlich beschränkte Barschaft geht nach und nach verloren, die Verschuldung wächst. Die manipulative Wucht der virtualisierten Währung reißt die physische, die natürliche Welt mit ins Datennetz, verwandelt sie. Macht sie anscheinend beliebig verfügbar, so wie aus wenigen eingescannten Fotos die üppigsten Collagen entstehen.

Mehr noch. Der verheißungsvolle Äther von Online-Cash scheint ein uraltes Märchen wahr werden zu lassen: das vom Goldesel – die unendliche Vermehrbarkeit des Geldes. Durch grenzenlos wuchernde Speicherplätze und Datennetze ist sie zumindest theoretisch möglich geworden. Bereits jetzt zerbrechen sich staatliche Währungshüter den Kopf darüber, wie die elektronische Geldmenge im World Wide Web kontrollierbar sei. Doch selbst eingebaute Systemschranken sind für die pure Vorstellungskraft, etwa von Hackern, ganz und gar nebensächlich. Es geht um binäre Alchimie, darum, Tastaturklicks in zeitgemäßes Gold zu verwandeln. Darum, das Internet als ultimative Notenpresse zu nutzen. Sobald das Leben in virtuellen Räumen pulsiert, kommt es auf das gegenständliche Universum zunehmend weniger an.

Zu den elektronischen Wegelagerern der Zukunft gehören mit Sicherheit die Geldnetzkonzerne. Wenn erst einmal strategische Allianzen wie Visa-Gates die Tore zum internationalen Geldverkehr per „Datenautobahn“ aufschließen, dann könnte bei jedem Transfer ein Wegzoll in die Konzernkasse rasseln. Auch das Metier „Corriger la fortune“ wird im Geldnetz abschöpfen. Von der gedopten Chipkarte bis zum abgezweigten Speichergeld ist mit allem zu rechnen. Hinzu kommen jede Menge Geldkrisen, wenn im anarchischen Gewimmel der Systemsurfer das Sozialprodukt nur noch digital abgerechnet wird.

Doch warum dieses eMoney mit dem apokalyptischen Ekel des Christentums betrachten! Geht nicht das Wort „money“, wie auch das spanische „moneda“, auf die antike Göttin Moneta zurück? Die wiederum ist das römische Pendant zur Griechengöttin Mnemosyne. Die Mutter der Musen. Und ihr Name bedeutet übersetzt – Imagination.