■ Zwei Jahre Chiapas-Aufstand
: Einmarsch der Indios in die Moderne

Als am 1. Januar 1994 eine bis dahin völlig unbekannte Guerilla im süostmexikanischen Bundesstaat Chiapas vier wichtige Ortschaften besetzte, in Armeekasernen Waffen requirierte und einen korrupten Exgouverneur als Geisel nahm, war die Verwirrung weit über die Grenzen Mexikos hinaus perfekt. Wer waren diese sogenannten „Zapatisten“ in Mexikos ärmstem und mit dem Stigma des Indianischen und damit des Rückständigen belegten Bundesstaat, die derart spektakulär den Aufstand probten?

Schnell war der Mythos des „Indianeraufstandes“ gestrickt: „Die Gründe für den Aufstand führen weit zurück bis in die Welt vor Kolumbus“, belehrte der erzkonservative Literaturnobelpreisträger Octavio Paz die neugierige Weltpresse. „Man denke nur an den immerwährenden Kriegszustand zwischen den damaligen Gesellschaften. Die zeitgenössischen Gründe: Die fallenden Kaffeepreise und der schwere Stein an Mexikos Hals, die Bevölkerungsexplosion.“

Die Tatsache, daß die Aufständischen in ihrer Mehrheit aus Indigenas bestand, verklärte den Blick der Intellektuellen und hinderte sie daran, die Zapatisten an ihrem Diskurs zu messen. Es dauerte lange, bis man begriff, daß es sich hier nicht um Indios handelte, denen es in ihrern Dörfern zu eng geworden war, die sich urplötzlich ihrer präkolumbischen Kriegertradition bewußt wurden und die Städte der Weißen überfielen. Die „Zapatistische Nationale Befreiungsarmee“ (EZLN), die sich auf den legendären mexikanischen Bauernführer aus der Zeit der Revolution von 1910–19 berief, stieß international auf Verständnis und Sympathie wie keine andere lateinamerikanische Guerilla vor ihr, weil sie nicht die Revolution forderte, sondern ganz modern Demokratie und Menschenrechte – und damit Mexikos Regierung ins Schlingern brachte. Vorher hatte nämlich Präsident Salinas de Gortaris mit seiner neoliberalen Wirtschaftsreform das Monopol auf den Begriff „modern“ beansprucht.

Der Aufstand von Chiapas rief wie kein anderes Ereignis zuvor den Mexikanern in Erinnerung, daß sie in einem Vielvölkerstaat wohnen. Fast ein Zehntel der 90 Millionen Mexikaner rechnet sich zu einer der mindestens 56 indianischen Ethnien. Wer genau Indianer ist, wurde indes immer von denen bestimmt, die es nicht waren. Erst in jüngster Zeit werden die indianischen Gruppen als „Formen sozialer Organisation“ begriffen, zu denen die gehören, die sich dazu zählen. Und so ist die Tatsache, daß es Indianer gibt, kein Überbleibsel aus der Zeit vor der spanischen Conquista, sondern ein Resultat der Kolonialgeschichte.

Deshalb, und weil die Indianer in Mexiko stets als Hemmschuh der Modernisierung begriffen wurden, ist die Angst der Mexikaner vor den Autonomiebestrebungen ihrer Indigenas groß. Die Forderung nach indianischer Autonomie ist der Versuch, an dem Prozeß der Modernisierung teilzuhaben und nicht, ihn aufzuhalten. Andreas Baum