Gesucht: Ein Zauberer, der alle glücklich macht

Zwei Jahre nach dem Indianeraufstand in Chiapas ist die Diskussion um ein „neues Mexiko“ voll entbrannt. Bedeutet Selbstbestimmung für die Indio-Völker mehr Demokratie oder bloß „Selbstverwaltung der Armut“?  ■ Von Anne Huffschmid

Die Fernsehkommentatoren waren empört. Bei den Kommunalwahlen in Oaxaca, einem der größten und überwiegend von Indianern bewohnten Bundesstaaten Mexikos, sei es diesmal entsetzlich undemokratisch zugegangen. War es wieder einmal Wahlbetrug, Geisterwähler und Stimmabgabe mit vorgehaltener Knarre? Nein: Knapp vierhundert der 570 Gemeinden im Bundesstaat hatten ihre Vertreter schon im Vorfeld in traditioneller Manier per Dorfversammlung bestimmt. Am offiziellen Wahlttag wurden sie nur noch bestätigt. Und dieses Verfahren wurde auch noch – das ist das Neue – offiziell abgesegnet.

Seit August sind die „usos y costumbres“, die althergebrachten Gebräuche, vom mexikanischen Wahlgesetz erstmals anerkannt und geschützt. Volksvertreter können nun auch kollektiv bestimmt werden, wobei die einzelnen Mitglieder indianischer Gemeinden auf ihr individuelles Wahlrecht verzichten.

Wie demokratisch ist die eigene Tradition?

Dieses Verfahren sei nun „nicht notwendigerweise demokratischer“, wendet der bekannte Essayist Luis Hernández ein. Es schließe die Parteien aus und begünstige hier und da eher die lokalen Großkopfeten und Großgrundbesitzer, die auf dem Land schon bisher auch das „moderne“ Wahlprozedere zu nutzen wußten. Es tendiere mitunter zum Ausschluß der Frauen. Dennoch sei für viele Dorfgemeinschaften die Anerkennung ihrer „meist transparenteren“ Wahlmechanismen ein wichtiger Schritt im Kampf um Mit- und Selbstbestimmung.

Mexiko beginnt, sich vor der Autonomie seiner Indianer zu fürchten. Der Autonomiebegriff, für die Indigena-Bewegungen schon lange kein Novum mehr, ist heute aus den öffentlichen Debatten nicht mehr wegzudenken.

Besonders präsent ist die Debatte im aufstandgeschüttelten Hochland der Südprovinz Chiapas. Die Autonomiefrage steht hier im Zentrum der Gespräche zwischen der Zapatistenguerrilla EZLN und mexikanischen Regierungsvertretern. Und die BeraterInnen beider Seiten waren sich, sehr zum Leidwesen der offiziellen Unterhändler, zuletzt überraschend einig über die nationale Relevanz der Diskussion. Die Autonomie, so heißt es in einer gemeinsamen Erklärung, sei „der geeignete Weg zu einem neuen Verhältnis zwischen den indianischen Völkern und dem Staat“. Überhaupt habe man die indianische Selbstbestimmung als „die große Herausforderung“ dieser Tage zu begreifen, die nur innerhalb einer „tiefgreifenden Staatsreform“ gelöst werden könne.

Die Forderung nach der Anerkennung – und Ausweitung – der oft ohnehin faktisch existenten Selbstverwaltung führt regelmäßig zu dem Vorwurf an die Indigenas, Separatismus zu betreiben. Gemeint aber ist keinesfalls ein Bruch mit der föderalen mexikanischen Republik. Der „Generalrat der Pluriethnischen Regionalen Autonomien“ (RAP) – ein Zusammenschluß unabhängiger Indigena-Bewegungen, der sich seit Jahren der indianischen Autonomie widmet – schreibt: „Autonom zu sein heißt nicht, andere Kulturen und Bevölkerungsgruppen oder gar die Moderne abzulehnen. Mit dem Recht auf Autonomie wird erst die Grundlage für ein wirkliches Verstehen zwischen den indianischen Völkern und dem Rest der Mexikaner geschaffen.“

Ginge es den indianischen Völkern um die Abkopplung von Mexiko, dann „würden wir ja kaum für die verfassungsmäßige Anerkennung der Autonomie kämpfen, sondern einfach unsere eigene Verfassung machen“, so ein RAP- Koordinator. In der UN-Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die seit 1991 auch in Mexiko gilt, werden Regierungen schließlich verpflichtet, die „kollektiven Selbstbestimmungsrechte der indianischen Völker“ zu schützen und zu garantieren.

Die Republik Mexiko als ethnischer Bundesstaat

Damit diese Formel nicht frommer Wunsch bleibt, hat die Nationale Plurale Indianerversammlung für Autonomie (Anipa) – ein Kongreß indianischer Basisbewegungen, der alleine in diesem Jahr viermal tagte – jetzt einen detaillierten Entwurf für ein Autonomie-Dekret vorgelegt. Die zapatistische EZLN hat sich den Entwurf zu eigen gemacht. Er sieht „nur“ die Modifikation von fünf Verfassungsparagraphen vor. Doch diese Reformen haben es in sich: Danach sollen sich in allen multiethnischen Gebieten des Landes selbstverwaltete Gemeinden zu sogenannten Regionalautonomien zusammenschließen. Deren Vertretungen würden dann als eine Art vierte Ebene – zusätzlich zu Kommunal-, Landes- und Bundesebene – in die föderale Struktur Mexikos eingebaut. Auch die Beteiligung an der zentralen Gesetzgebung soll garantiert werden, sei es per Quote, Ethnie oder Region, jedenfalls nicht wie bisher nur über die politischen Parteien.

Außerdem fordert die Anipa einen Antidiskriminierungsparagraphen in der Verfassung. Zwar ist die „plurikulturelle Zusammensetzung der Nation“ und der „Schutz der Sitten und Gebräuche“ dort schon seit gut drei Jahren vorgeschrieben, bislang hat das jedoch keine praktischen Folgen. Denn mangels entsprechender Ausführungsgesetze gibt es keinerlei rechtliche Handhabe, papierne Grundrechte auch einzuklagen.

Der Vorstoß der Anipa markiert einen Wendepunkt der mexikanischen Indigena-Bewegung, die ohnehin seit dem Beginn des zapatistischen Aufstands in Chiapas Anfang 1994 recht gut vernetzt ist. Die alten Strategien des „Rückzugs durch Überleben“ seien verbraucht, schreibt der Anthropologe Eugenio Bermejillo. Heute gehe es um die politische Offensive: „Nicht mehr so tun, als ob das Gesetz der Kolonialherren gar nicht existiert, sondern die Gesetze verändern – und benutzen.“

Diese Idee stößt erwartungsgemäß bei den Nachfahren der spanischen Kolonialherren auf wenig Gegenliebe. Autonomie soll nach den Vorstellungen der Regierung nach den indianischen Völkern nur auf der kleinsten Mikroebene zuerkannt werden: Nur in ihren Dörfern sollen die Indios künftig nach Belieben schalten und walten. Das, so Bermejillo, sei zwar neu in der politischen Diskussion, entspreche aber nur der „uralten Notwendigkeit der politischen Kontrolle“.

Aber auch innerhalb der indianischen Diskussion stößt der Vorschlag von Regionalautonomien keinesfalls auf einhellige Zustimmung. Besonders VertreterInnen aus dem Norden Oaxacas, wo es vielerorts noch eine eigene Tradition kommunitärer Praxis gibt, sind skeptisch gegenüber der Idee eines regionalen Überbaus. Sie fürchten neue Bürokratien und wollen in erster Linie ihre schon existierenden De-facto-Autonomien vor äußeren Einflüssen geschützt wissen.

Plötzlich friedlich Zusammenleben?

Auch den multiethnischen Ansatz halten viele für illusorisch: Warum sollten verschiedene Ethnien plötzlich „wie von Zauberhand“ friedlich zusammen und sogar mit ihren ehemaligen Eroberern leben wollen? Der Autonomieexperte Gustavo Esteva meint gar: „Der gegenwärtige Kampf will gar nicht den demokratischeren Zugang zu den Strukturen dieses Staates. Er will den Respekt vor Lebenstilen und Entwürfen, die sich dem Staat weitestgehend entziehen.“

Der Vorwurf, die Regionalisten wollten eine neue territoriale Ordnung „von oben“ einsetzen, ist logisch – aber es ist nicht zwingend, daß es so kommt. Eine erfolgreiche Regionalisierung bedeutet eher die Verknüpfung der bisherigen kommunitären Mikropraxis mit politischen Makroentwürfen zur Schaffung und Verteidigung eigener Entscheidungssphären. Denn ohne einen Zugang der indianischen Gemeinden zu Marktmechanismen und Ressourcenflüssen, warnt der Politologe Armando Bartra, würde sich die Autonomie bald auf „die Selbstverwaltung der Armut“ beschränken.