„Alle Tschetschenen töten“

Viele Tschetschenen sind vom Vernichtungswillen der Russen überzeugt. Und manche Russen wollen die Tschetschenen am liebsten ausrotten  ■ Aus Gudermes Richard Boudreaux

„Es gibt nur einen Weg, diesen Krieg zu beenden“, belehrt mit einem herablassenden Grinsen der russische Kapitän mit den stahlblauen Augen und dem blonden Stoppelbart. „Man muß alle Tschetschenen töten.“ Ein anderer Offizier an der Straßensperre, sichtlich verlegen, korrigiert: „Alle Tschetschenen, die sich einer friedlichen Lösung widersetzen.“ Der Kapitän ist aufgebracht: „Nein!“ weist er seinen Nachbarn zurück. „Ich meine: Alle Tschetschenen töten. Punkt.“ Er spuckt in den Schnee. „Alle Tschetschenen sind Feinde. Sie verschwinden, sie verstecken ihre Gewehre und werden sogenannte friedliche Bürger. Dann, wenn du sie wieder zu Gesicht bekommst, töten sie dich.“

Der grimmige Ton ist typisch für die Stimmung in dieser kleinen Kaukasusrepublik, wo im Dezember wieder schwere Kämpfe zwischen Zehntausenden russischen Soldaten und tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern ausgebrochen sind. Der Kapitän mit dem Stoppelbart war dabei, als die russischen Truppen letzten Winter die Hauptstadt Grosny zerstörten und diesen Winter die zweitgrößte Stadt, Gudermes. Nun wollen die Tschetschenen die Russen bis zum letzten Soldaten hinaustreiben. „Krieg ist eine Kunst“, sagte der tschetschenische Rebellenführer Dschochar Dudajew kürzlich auf einer Untergrundpressekonferenz. „Laßt die Russen so hinausgehen, wie sie hereinkamen, und alles ist okay. Sonst wird dieses Pulverfaß explodieren.“

Tschetschenen nennen die jüngsten Kampfhandlungen den „zweiten Krieg“. Er wird Rußlands Präsidenten Boris Jelzin mehr schaden als der ursprüngliche russische Einmarsch am 11. Dezember 1994. Der Krieg ist unpopulär, und im Juni stehen Präsidentschaftswahlen an. „Die Russen sind weit davon entfernt, Tschetschenien zu kontrollieren“, sagt Manuel Bessler, Leiter der Mission des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Tschetschenien. „Ich staune über die Fähigkeit der Russen, sich neue Feinde zu machen. Sie haben überhaupt nichts gelernt.“

Der am 30. Juli geschlossene erste Frieden war bereits Monate brüchig, als Jelzin im Dezember einseitig „Wahlen“ anordnete. Die Wahl am 17. Dezember gewann erwartungsgemäß der vom Kreml eingesetzte „Präsident“ Doku Sawgajew mit massiven Fälschungen: Obwohl in weiten Landesteilen nicht gewählt werden konnte und die Tschetschenen boykottierten, wurde Sawgajew noch vor Schließung der Wahllokale zum Sieger erklärt und eine angeblich 68prozentige Wahlbeteiligung gemeldet. Das setzte dem Friedensprozeß ein Ende. Moskau sieht Sawgajew als einzigen Verhandlungspartner an und hat ihm zwei Milliarden Dollar „Wiederaufbauhilfe“ zugesagt – aber in Tschetschenien gilt er als Moskaus Marionette.

„Das Wahlergebnis wurde vorher festgelegt, das ist klar“, sagt der tschetschenische Philosophieprofessor Salman Vatsdanayew. „Aber zu denken, daß die Tschetschenen sich verarschen lassen, ist naiv. Sawgajew wird nicht lange regieren. Nicht, weil die Leute Dudajew lieben – sie hassen ihn –, sondern weil sie Moskau noch viel weniger mögen.“ Im zerstörten Gudermes ist es nicht schwer, Tschetschenen zu finden, die davon überzeugt sind, daß die Russen ihr Land zerstören wollen. „Sie brauchen diesen Krieg, um Geld zu verdienen“, sagt der 43jährige Khamzat Gerikhanov, der im Sommer mehrere Monate lang in einem abgebrochenen Wiederaufbauprojekt arbeitete und nie bezahlt wurde. „Beamte erhalten riesige Summen Geld, um Wohnungen, Krankenhäuser, Straßen und Schulen wiederaufzubauen. Und sie stecken es einfach in die Tasche. Menschen sind ihnen egal. Nur der Rubel zählt.“(wps)