: Heiner Müller, Deutschlands bedeutendster Gegenwartsdramatiker, ist tot. Objekt kultischer Verehrung in Ost und West, verstand es der Stoiker stets, sich jedweder Festlegung zu entziehen: "Das einzige, was ich nicht offen sage, ist meine Me
Heiner Müller, Deutschlands bedeutendster Gegenwartsdramatiker, ist tot. Objekt kultischer Verehrung in Ost und West, verstand es der Stoiker stets, sich jedweder Festlegung zu entziehen: „Das einzige, was ich nicht offen sage, ist meine Meinung.“
Gesamtdeutscher Individualanarchist
Am Nachmittag des 30. Dezember starb Heiner Müller in Berlin. Nur wenige Stunden später war die Welt informiert. Es war kein unvorhersehbarer Tod, der 66jährige Autor und Theaterleiter hatte Krebs, im Herbst 1994 wurde ihm die Speiseröhre entfernt. Auch danach trank Müller Whisky und rauchte Zigarren, wie er es jahrzehntelang getan hatte. Er solle seinem Körper keinen Wechsel der Gewohnheiten zumuten, habe sein Arzt ihm empfohlen. Und was so ein Rat bedeute, wisse man ja, sagte Walter Jens. Ein Fernsehteam interviewte den Akademiepräsidenten am gleichen Abend im Foyer des Berliner Ensembles.
Doch: „Selbst wenn man weiß, alles hängt am seidenen Faden, ist man über den plötzlichen Tod zutiefst erschrocken.“ Das sagte die Schauspielerin Marianne Hoppe, von dpa zitiert unter der Rubrik „Reaktionen“. Reaktionen gab es eine Menge. Neben Jahresrückblicken war Müller das wichtigste Thema der Rundfunkstationen am Silvestertag. Journalisten riefen nach, Künstler und Politiker würdigten. Und früh am Neujahrsmorgen fügte eine Death-Metal-Band in einer Kreuzberger Kneipe eine Songzeile ein: „Und denkt jetzt nicht an Heiner Müller.“
Müller, Deutschland – seit den achtziger Jahren war er omnipräsent und Objekt geradezu kultischer Verehrung. In den letzten Jahren war es ein chinesischer Weiser, der einem auf Veranstaltungen und (seltener werdenden) Lesungen begegnete, eine ebenso durchscheinend wie undurchschaubar wirkende Figur, die hinter einer Wolke aus Zigarrenrauch verschwand, durch eine schwarze Brille blinzelte, die Hände hob und sich mit fast tonloser Stimme äußerte, klar und nach allen Richtungen auslegbar. „Das einzige, was ich nicht offen sage, ist meine Meinung. Und ich werde mich auch hüten, das jemals zu tun.“
Am 9. Januar 1929 wurde Heiner Müller im sächsischen Eppendorf geboren. Nach NS-Arbeitsdienst und dem Einsatz im Volkssturm geriet er 1945 für kurze Zeit in US-amerikanische Gefangenschaft. Ab 1950 Journalist in Ost- Berlin sowie erste literarische Texte. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter kam Heiner Müller 1954 zum Schriftstellerverband der DDR. Er war Redakteur der „Jungen Kunst“, dramaturgischer Mitarbeiter am Maxim Gorki Theater und ab 1959 freier Schriftsteller.
1961 wurde Müller aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, da die SED sein Stück „Die Umsiedlerin“ als „Linksabweichung“ zu entlarven meinte. Aufgenommen wurde er erst wieder 1988 – da war er im Westen längst zum meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker avanciert. In den letzten Jahren der DDR genoß Müller Reisefreiheit. Einst sogar mit Berufsverbot belegt, geriet er zum Aushängeschild; Ost und West buhlten um seine Gunst: 1985 erhielt er den Büchnerpreis, im Jahr darauf den DDR-Nationalpreis der 1. Klasse. Heiner Müller, der Kommunist und Avantgardist. „Wenn ich ein ,Aushängeschild der DDR-Kulturpolitik‘ gewesen sein soll, dann kann ich nur sagen: Was sollten die denn sonst aushängen?“
„Traktor“, „Die Korrektur“, „Der Lohndrücker“, „Der Bau“. Müller begleitete den Aufbau der sozialistischen Produktionsgesellschaft. Aber problem-, nicht lösungsorientiert. Die Realität als Material. In dieser Haltung bleibt er sich treu. 1993 sagt er, über sein Verhältnis zur Stasi befragt, „dieses Wahnsystem“ habe ihn als Material interessiert. „Wie funktionieren solche Gehirne und solche Apparate?“ Einer, der an Formen interessiert ist. Einer, an dem alle einen haben, auf den sie nicht bauen können. Der Vorwurf, er sei in den Stasiakten als mutmaßlicher IM „Heiner“ geführt worden, hat weder seinen Nimbus geschmälert noch einen Bruch in der Selbstinszenierung bewirkt.
Nach den „Produktionsstücken“ wandte sich Müller gleichnishaft historischen und literarischen Stoffen zu. „Philoktet“, „Macbeth“, „Die Schlacht“, „Germania Tod in Berlin“. Die Leichen der Weltliteratur torkeln als Wiedergänger über verbrannte Erde, als wäre es ihr Wohnzimmer. „In den Rücken die Ruinen von Europa... Und redete mit der Brandung BLA BLA“ („Hamletmaschine“).
In den 70ern arbeitete Müller einige Jahre lang am BE, dessen künstlerischer Direktor er 1992 wurde – erst in einem Team, in den letzten Monaten im Alleingang. Vor einigen Jahren begann er seine Stücke selbst zu inszenieren. Um sie nicht im „deutschen Tiefsinn“ versinken zu lassen, um sie „viel einfacher“ zu machen.
1993 zeigte er „Duell Traktor Fatzer“ am Berliner Ensemble. Einfacher? Statisch. In der Pause läßt er Text über Lautsprecher ins Stimmengewirr des Publikums sprechen. Der Geschichtspessimismus paart sich aggressiv mit Theaterpessimismus. Ein „vergessnes Kleid“ nennt er das Theater 1994 in einem Gedicht. Ein Jahr später heißt es: „Es gibt keine Konfrontation mehr, also braucht man keine Kommunikation mehr.“ Und doch schrieb er weiter. „Germania 3“, ein Stück über Stalin und Hitler, wollte er am BE im Frühjahr inszenieren. Nach langem Schweigen doch wieder ein Text fürs Theater, „wissend, der ungeschriebene Text ist eine Wunde“.
„Wissend, der ungeschriebene Text ist eine Wunde“ – eine Zeile nah am Kitsch. Müller versuchte vielleicht, ein Publikum, wenn schon nicht mehr zu bessern und zu belehren, so doch mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln „existentiell“ zu berühren. Noch in den scheinbar unzugänglichsten Texten ist ein Moment von gesuchter Nähe zur dramatischen Pointe. Hörbar als Sound, in dem Brecht und Shakespeare mitschwingen, Geschichtsphilosophie und Gesellschaftsanalyse, Grübelgedanken des Intellektuellen in seiner Sprachzelle und der Rekurs auf die ganz großen geschichtlichen Bewegungen: „Die Augen der Frauen / Werden kälter / Abschied von morgen / STATUS QUO“.
Es muß etwas mit dieser selten gewordenen Spannbreite, diesem melancholisch-historischen Heavy-Metal-Sound zu tun haben, daß Heiner Müller spätestens seit den Siebzigern zur Kultfigur aufstieg, der „größte noch lebende Dramatiker“, wie er sich ironisch unbescheiden nannte. Und beileibe nicht zu Unrecht. Kein zeitgenössischer Theaterautor hat die Öffentlichkeit in den letzten zwanzig Jahren nachhaltiger beschäftigt, keiner hat derart vielfältige, sich oft widersprechende Interpretationen auf sich gezogen.
Müller als Autor der Katastrophe, der den Sozialismus in blutigen Bildern verabschiedet; Müller als melancholischer Aufklärer, der im Gegenteil die Utopie in der äußersten Negation rettet; Müller als Abweichler und Überwinder der Brechtschen Lehrstücktradition, nein, andersrum, Müller als Garant eines besseren Erbes nur im Osten möglicher Schreibtraditionen; Müller schließlich als gesamtdeutscher Individualanarchist und Lieblingsdissertationsgegenstand des fortschrittlichen Germanisten. Aber auch: Müller, dessen Ruf die Grenzen der Universität überschritt und sogar noch in Übungskellern vernommen ward. „SOMETHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE“ – klingt diese Zeile aus der „Hamletmaschine“ nicht eigenartig nach „no future“? Müller jedenfalls wird von Zwanzigjährigen gelesen. Am BE ist für die nächsten Tage eine Dauerlesung sämtlicher Werke angekündigt, hintereinander weggelesen: Müller als Lesungs-Megarave mit einem Beigeschmack von Mahnwache und Triathlon.
Daß so viele Widersprüche auf keines Autors Haut gehen können, hat deren Besitzer nie besonders gekratzt. Müller hat sich keinem Lager zugeschlagen. „Ich war nur ein Beobachter, nichts weiter.“ Petra Kohse, Thomas Groß
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen