Berlin soll den Tarifkampf eröffnen

Peter Grottian fordert von der Großen Koalition, die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst zu verkürzen. ÖTV-Chef Lange habe Angst vor einer „solidarischen Umverteilung“ der Arbeit  ■ Von Dirk Wildt

Bei der Frage, wie im öffentlichen Dienst die Personalkosten gesenkt werden können, mischen sich jetzt auch erste Stimmen aus der Lehre und Forschung ein. FU- Hochschullehrer Peter Grottian fordert die Große Koalition auf, die Arbeitszeit der 174.000 öffentlichen Bediensteten in Verwaltung, Polizei, Feuerwehr und den Schulen im Durchschnitt um ein Zehntel zu verkürzen – und ein Zehntel weniger Gehalt zu zahlen. Angesichts der dramatischen Haushaltslage müsse eine künftige Landesregierung zwar auch Stellen abbauen. Doch weil Berlin sich bereits aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) habe ausschließen lassen, habe das Land die Chance, bei der Arbeitszeitverkürzung „bundesweit eine Vorreiterrolle“ zu spielen.

Wer weder kündigen noch die Arbeitszeit verkürzen wolle, mache alle öffentlichen Einrichtungen für Berufsanfänger zu, sagte Grottian der taz. Der öffentliche Dienst verschanze sich schon heute wie in einer Wagenburg. So hätten sich etwa die Lehrerkollegien bundesweit längst zu Altersheimen entwickelt. Im Schnitt seien nur noch 25 von 100 Lehrern unter 35 Jahre alt. Bundesweit sei bei einer Gehaltskürzung von zehn Prozent im höheren Dienst bei Beschäftigten des öffentlichen, halböffentlichen, kirchlichen und wohlfahrtsverbandlichen Sektors insgesamt 700 Milliarden Mark Personalkosten betroffen – etwa 10 bis 17 Milliarden Mark könnten davon umverteilt und so 150.000 bis 300.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Grottian schlägt deshalb in einem Thesenpapier „Bündnis für Arbeit – aber subito auch für den öffentlichen Dienst“ vor, im Ostteil der Stadt den Tarif auf 90 Prozent des Westtarifs einzufrieren und dafür die Arbeitszeit um ein Zehntel zu verkürzen. Im Gegenzug müsse auch „der Westen bluten“ und eine entsprechende Reduzierung der Arbeitszeit und des Lohns hinnehmen. Untere Gehaltsklassen sollen auf Wunsch von dieser Regel ausgenommen werden. Beschäftigten des höheren Dienstes würden dagegen eine Kürzung um ein Zehntel „einfach so wegstecken“. Das Beamtenrecht würde automatisch verändert. Denn setze Berlin tarifvertraglich bei den Angestellten niedrigere Gehälter durch – und folgten dem andere Länder, habe Bundesinnenminister Kanther (CDU) das Beamtenrecht anzupassen. Dem Berliner ÖTV-Chef Kurt Lange warf Grottian vor, sich in der gesamten Debatte kontraproduktiv zu verhalten. Er habe mit dem ÖTV-Vorsitzenden bereits mehrere Gespräche geführt, in denen Lange „strikt die Linie vertreten hat, knallhart seine Klientel zu bedienen“. Die ÖTV habe „Angst vor einer Auseinandersetzung um eine solidarische Umverteilung von Arbeit“.

SPD-Fraktionschef Klaus Böger führte gestern im Rahmen der Koalitionsverhandlungen mit der ÖTV, GEW und DAG Gespräche zur Arbeitszeitverkürzung – mit geteiltem Erfolg.

Siehe Bericht auf Seite 4