Ende des Rausches, Anfang der Sucht

Die Profanisierung der Droge Fernsehfußball verhindert deren kontrollierten und verantwortungsvollen Gebrauch durch die von gewissenlosen Kartellen willenlos gemachten Konsumenten  ■ Von Joachim Frisch

Berlin (taz) – Unruhig zuckt der Finger über die Fernbedienung, immer verkrampfter wird die Körperhaltung des Entzugsgeplagten, jeder neue Fehlschlag löst Entsetzen aus, bis schließlich die Auffindung einiger Ausschnitte aus der portugiesischen Liga oder der Aufzeichnung eines mehrere Monate alten Benefizspieles kurzfristige Erleichterung verschafft. Bundesliga und Europacup haben seit mehreren Wochen Pause, Flaute auf der Mattscheibe – Zustände, wie man sie kaum noch kennt und wie sie von den Paten der Fußballsucht keinesfalls geduldet werden können. Diese haben auch schon vorgesorgt: Morgen beginnt in Essen die lange Serie der Hallenturniere.

Zwar kennen Drogenforscher seit langem Sucht, die nicht an Stoffe gebunden ist: Spielsucht, Sexsucht, Laufsucht. Fußballsucht aber haben sie bisher noch nicht beklagt, obwohl seit ewigen Zeiten Fußball gespielt wird und das Fernsehen uns seit über 30 Jahren mit Fußball versorgt. Fernsehfußballsucht dagegen ist neu. Wieso aber macht ausgerechnet Fußball der 90er Jahre süchtig, der von Kritikern hierzulande als langweiliger Dienstleistungs- oder Angestelltenfußball geschmäht wird? Was hat die akademische Suchtforschung dazu zu sagen?

Sucht ist nicht durch Stoffe wie Heroin oder Nikotin charakterisiert, sondern dadurch, daß die Gedankenwelt des Süchtigen von seiner Droge beherrscht wird (nachzulesen bei Sebastian Scheerer: „special: Sucht“, rororo 1995). Genau dies ist der Fall bei der Fernsehfußballsucht: Schon beim Frühstück kreisen die Gedanken des Fußballjunkies um die abendliche Übertragung, schon die Angst, den Videorekorder falsch programmiert zu haben, lähmt jegliche Kreativität und Konzentration. Wie in der Heroinszene kreisen die Gespräche nur noch um das Eine, die Droge. Die sozialen Kontakte zur fußballfreien Außenwelt verkümmern.

Doch die Suchtforschung lehrt uns auch, daß Drogen allein noch längst nicht für Sucht verantwortlich zu machen sind. Im Gegenteil: In früheren Jahrhunderten war Sucht nahezu unbekannt, obwohl man Drogen gegenüber alles andere als abgeneigt war. Selbst Opium, Grundsubstanz des so gefürchteten Heroins, wurde konsumiert, ohne daß ein Suchtproblem entstand. Sozialwissenschaftler schließen daraus, daß es weniger die Substanzen als die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen sind, die Sucht verursachen. Früher wurden Drogen wie Alkohol oder Opium in traditionellen Ritualen, bei festlichen Anlässen und in Gesellschaft mit vertrauten Personen genossen. Die Verknüpfung des Drogenkonsums mit rituellen Zeremonien verhinderte nicht nur die Gewöhnung, sie garantierte auch den unvergeßlichen Rausch als euphorisches Erlebnis. Der Rausch war etwas Besonderes, Sakrales, ausgewählten Gelegenheiten und ausgesuchter Gesellschaft vorbehalten. Jeder Rausch war erhebend, ein Festtag. Die Vorfreude verlängerte und erhöhte den Lustgewinn.

Mit der Profanisierung der Drogen zum Allheilmittel gegen Liebeskummer, Gewichtsprobleme und Langeweile kam der unkontrollierte Konsum, mit diesem die Sucht. Der permanente und gedankenlose Gebrauch der Drogen ließ ihren Zauber verschwinden. Der tägliche Rausch ist kein Erlebnis mehr, sondern fades Dümpeln, Totschlagen unnützer Zeit und schließlich nur noch Medikament gegen lästige Entzugserscheinungen. Der Wissenschaftler drückt dies so aus: „Jede Glücksquelle hat einen abnehmenden Grenznutzen. Um das zu verstehen, muß man nur vier Wochen lang jeden Tag sein Lieblingsgericht essen.“ (Scheerer) Der Bluesman sagt es so: „The thrill is gone.“ Diesen Prozeß der Profanisierung, der bei den Drogen Alkohol und Opium Jahrhunderte gedauert hat, hat der Fußball in wenigen Jahren durchgemacht. War nicht vor 20 Jahren Fußball noch allein Wochenendvergnügen? War nicht der Rausch beschränkt auf die Bundesliga am Samstag und allenfalls das eigene Spiel am Sonntag? War nicht der langersehnte Samstagnachmittag immer wieder von neuem ein euphorisches Erlebnis? Ein Ritual? Vorbei die gute alte Zeit des kontrollierten und verantwortungsvollen Gebrauchs der Droge Fußball „als Genußmittel“. (Henning Schmidt-Semisch: „Drogen als Genußmittel“, AG-Spak-Publ) Fußball heute ist Betäubungsmittel. Erst die Überschwemmung des Fernsehunterhaltungsmarktes ließ den Fußball zur Suchtdroge werden.

Was den Konsumenten in die Sucht treibt, ist nicht der Fußball an sich, sondern die gezielte Überschwemmung des Marktes mit der Droge durch skrupellose Dealer. Organisationen, die unter den Kürzeln DFB, Sat.1, RTL, Eurosport oder DSF bekannt sind, sorgen für die Verbreitung und das Strecken der Droge. Die typische Woche eines Abhängigen läßt keinen Raum mehr für Entwöhnung, schon gar nicht für Vorfreude: Bundesliga von Freitag bis Sonntag, Montag 2. Liga, Dienstag UEFA-Cup, Mittwoch Champions League im Wechsel mit Länderspielen, Donnerstag Europapokal der Pokalsieger, Freitag bis Sonntag wieder Bundesliga usw. So kommt es zu dem typischen Phänomen, das die Suchtexperten „Gewöhnung“ oder „Erhöhung der Toleranzgrenze“ nennen.

Zudem erhält der User durch das Strecken nur noch Stoff minderer Qualität. Damit ist für ihn der Abstieg in die Sucht programmiert, der bittere Weg vom bewußten Rauscherlebnis zum bewußtlosen Dauerkonsum mit all seinen pathologischen Begleiterscheinungen. Wie bei jedem Süchtigen steht nicht mehr das Erlebnis des Rausches im Vordergrund, sondern das Vermeiden von Entzugserscheinungen. Frustvermeidung statt Lust, grauer Alltag des Süchtigen statt Festtag des Lebenskünstlers. Um diese Entzauberung des Fußballs zu verstehen, müßte man nur vier Wochen lang jeden Tag ein Spiel seiner Lieblingsmannschaft in voller Länge im Fernsehen anschauen.

Den Betroffenen bewußt wird ihre Sucht erst durch Entzug. Nach monatelangem täglichem Konsum öffnet der Zwangsentzug in Winter- und Sommerpause dem Fußballjunkie möglicherweise die Augen. In denen der Dealer aber ist dies ein Dorn: Selbstdiagnose könnte den Weg aus der Sucht weisen. Genau das darf aus ihrer Sicht nicht passieren, denn Süchtige sind die treuesten Kunden. Deshalb hat man vorgesorgt: Um diesen gefährlichen Prozeß der Besinnung erst gar nicht aufkommen zu lassen, wurde selbst die in früheren Jahren obligatorisch als schrecklich bezeichnete fußballfreie Zeit mit zweit- und drittklassigem Fußball vollgestopft, mit nationalen und internationalen Pokalwettbewerben sowie Hallenturnieren, deren wahrer Zweck darin besteht, die Entwöhnung des Süchtigen von seiner Droge zu verhindern.

In lichten Momenten der fußballfreien Zeit hätte sich der Süchtige möglicherweise gefragt, wie er aus seiner Misere herauskommen, wie er seinen Konsum wieder in den Griff kriegen könnte, um wieder Lust am Fußball empfinden zu können. Vielleicht hätte er sogar einen Drogenexperten aufgesucht, der ihm dann erzählt hätte, was wir inzwischen bereits wissen: Die Droge dürfe nicht zum Alltäglichen verkommen, sie müsse wieder etwas Außergewöhnliches verkörpern. Er hätte von Ritualen, konvivaler Berauschung und kontrolliertem Konsum gesprochen. Wehmut hätte sich beim Süchtigen eingestellt eingedenk der Erinnerung an die Euphorie beim eigenen Spiel, an samstägliche Stadionbesuche mit Freunden. Doch genau diesen wohldosierten, bewußten und kontrollierten Genuß des Fußballs gilt es seitens des Kartells der professionellen Fußballanbieter zu verhindern, denn nur bewußtloser und unkontrollierter Dauerkonsum bringt dauernden Profit.

So verbringt der bedauernswerte Konsument selbst die ehemals fußballfreie Zeit vor der Mattscheibe bei doofen UI-Cup- Spielen oder müden Hallenkicks, sich endlos langweilend und klagend über die Fernsehsender, die keinen Tag mehr ohne Fußball vergehen lassen. Nur eines schafft er nie: abschalten.