Unsere Kinder lenken uns ab – auf das Wesentliche Von Nadja Klinger

„Ich habe keine Pläne. Ich über-

lege nur, wie und wann ich das

nächste Mal Vater werden kann.“

Der Schauspieler Til Schweiger

in einem Fernsehinterview

am 30.12. 1995

Ein neues Jahr beginnt. Heiner Müller ist tot. „Jetzt weine ich“, sagt eine Freundin am Telefon. Dann weint sie.

Müller wohnte einst im 15. Stock. Von seinem Balkon blickte er auf das Wohngebiet am Tierpark im Osten Berlins. „Plattenbauten“ nennt der Westen das, was Müller sah. Müller sagte, er sähe Menschen. Die gingen unten entlang, er verfolge sie mit den Augen und versuche auszumachen, wohin sie wollten. Das sei spannend. „Einen sehr hohen Ort“ nannte Müller seinen Balkon. Dort bekam alles eine andere Bedeutung. „Die Grünanlagen sind rechteckig. Wenn die Menschen von der einen Ecke zur anderen wollen, trampeln sie diagonal über den Rasen“, sagte der Dramatiker begeistert. „Sie gehen ihren Weg.“

Die Freundin am Telefon weint immer noch. „Bald ist nichts mehr vom Osten übrig“, sagt sie.

Ein neues Jahr beginnt. Jeder fragt jeden, was er sich wünscht. Die jungen Hörer des brandenburgischen Radiosenders Fritz wünschen sich gute Musik bei einer guten Silvesterfete. Einer wünscht sich, „daß Hoppel mir öfter schreibt“. Eine andere, „daß meine Mutter endlich begreift, daß ich erwachsen bin“. Auf keinen Fall sollte man zusammen mit Ingenieuren feiern, empfehlen die jungen Menschen am Telefon. „Ich wünsche mir, daß keine Atomwaffen mehr getestet werden. Die Tests der Franzosen haben mich schockiert“, sagt ein Hörer plötzlich. „Hast du Verwandte in Frankreich?“ fragt der verdutzte Moderator. Mehr kann er mit diesem Thema nicht anfangen.

Was wünsche ich mir? Ich möchte mir auch etwas Politisches wie jener Hörer wünschen. Aber ich bin ausgestiegen. Raus aus dem aktuellen Tagesgeschehen. Ich habe keine Zeitung mehr gelesen, kein Radio mehr gehört und nicht mehr ferngesehen.

Als ich ausstieg, hatten wir in Berlin längst gewählt. Die SPD bemühte sich, den Anschein zu erwecken, als regten Wahlentscheidungen sie zum Nachdenken an. Jitzhak Rabin wurde ermordet. Tausende Staatsmänner aus der ganzen Welt trauerten gemeinsam am Grab und sprachen große Worte. Rabins Enkelin sprach von der Liebe zu ihrem Großvater und weinte. Der Nachrichtensprecher kündigte den nächsten Beitrag an.

Auf dem Weg zur Kneipe hörte ich im Autoradio, daß Ken Saro- Wiwa, ungeachtet weltweiter Proteste, hingerichtet wurde. Ich war entsetzt. „Wir haben morgen einen Kommentar dazu. Es steht alles drin, was es dazu zu sagen gibt“, sagte der Mann von der Zeitung, der neben mir saß.

Wir Kolumnisten der taz waren mehrfach zusammengekommen, um zu besprechen, wie diese Kolumne hier heißen soll. Vor allem die Männer sprühten vor bedeutungsschweren Ideen. Ich konnte mir wieder einreden, daß Frauen eher Menschen der Tat als der großartigen Worte sind. Kurz bevor die erste Folge erschien, einigten wir uns per Telefonrundruf auf „Schlagloch“. Schlaglöcher werden bemerkt.

Das älteste Schlagloch Deutschlands ist im Osten. Karl-Heinz Böhme aus Bad Frankenhausen hat am 31.3. 1945 zwischen 9 Uhr und 9.30 Uhr beobachtet, wie eine Bombe in die Straße hinter seinem Haus einschlug. Niemand hat das Pflaster seitdem repariert. Herrn Böhme macht das zu schaffen. Er hängt an den alten Zuständen. Das Fernsehen wittert eine Story und eilt hin. Karl-Heinz Böhme trägt Krawatte. „Ich wünsche mir, daß die Straße auf den Zustand von 1945 gebracht wird“, sagt er in die Kamera.

Als ich mich zurückgezogen hatte, verlor Lech Walesa die Wahl. Für mich sollte sich die ganze große Welt auftun und mich zuvor fast zerreißen. Ich lief im Geburtshaus auf und ab, ich kniete, ich wälzte mich, irgendwann dauerte es nicht mehr lange. „Das ist schön“, sagte der Mann, der in wenigen Minuten Vater werden sollte, „da schaffen wir es noch bis zu den ,Tagesthemen‘.“ Minuten später zog die Hebamme die Fruchtblase von der blutigen Plazenta, die vor mir auf dem Boden lag. Wir betasteten das Fleisch. „Was du hier siehst, hat dein Kind ins Leben geführt“, sagte sie. „Nun bist du an der Reihe.“

Langsam versuche ich, wieder einzusteigen. Das Leben muß weitergehen, sagt man in meinem Fall. Ich weiß aber nicht mehr so recht, wie das gemeint ist. Ich sehe fern, höre Radio, lese Zeitung. Das Friedensabkommen von Dayton ist unterzeichnet worden. Was das bedeuten könnte, ist kaum zu fassen. Die Kommunistische Partei ist der Sieger der russischen Parlamentswahlen. Lady Di beichtet alles über ihre Ehe in der BBC. Axel Schulz verliert seinen Boxkampf und erklärt eine Woche später: „Es geht nach vorn.“

Mitunter stimmt das. Bärbel Grygier, parteilose Kandidatin der PDS, ist in Berlin-Hohenschönhausen Bürgermeisterin geworden. Die eigene Partei, die die unbequeme Frau so gern verhindert hätte, hat sich nicht getraut und für sie gestimmt. Sichtlich verdutzt mußten die GenossInnen zur Kenntnis nehmen, daß sie vergeblich auf genügend Gegenstimmen von CDU und SPD gehofft hatten.

Es geht nach vorn – mitunter stimmt das aber auch nicht. Nach vorn bedeutet im Osten, daß er dem Westen „angepaßt“ wird. Ab 1.1. 1996 können die Eigentümer von Zweifamilienhäusern nun auch hier die Mieter in ihren Wohnungen ohne Angabe von Gründen vor die Tür setzen. Die Besitzer von Mietshäusern dürfen wegen Eigenbedarf kündigen. In Ostdeutschland sind 35.000 Menschen obdachlos, doppelt soviel wie vor zwei Jahren. Die öffentlichen Verkehrsmittel in Berlin werden teurer, Telefonieren wird teurer, Briefbomben werden teurer. Ich bekomme mehr Kindergeld. Gleichzeitig wurden die Betriebskosten meiner Wohnung erhöht, das Wohngeld gestrichen, die Kohlen, die Handwerker, das Kinderferienlager teurer. Der Kindertanzverein findet keine Sponsoren mehr und muß wohl aufgeben. Aus Protest, so rede ich mir zur Beruhigung ein, holen Tausende Ostdeutsche ihre neuen Ausweise nicht ab. Und Til Schweiger ist gerade Vater geworden und macht den Eindruck, als wirke das bei ihm. Auf die langweilige Frage, welche beruflichen Pläne er für 1996 habe, antwortet er, daß er bald wieder Vater werden wolle: „Ich will noch einige Kinder mehr bekommen.“

Ich auch. Ich will Kinder kriegen, die Menschen um mich herum sollen sie kriegen. Wir wollen nicht zuerst von dem Mut reden, den wir dazu angeblich bräuchten, sondern zuerst wollen wir die Kinder machen. Dann machen sie uns mutig. Sie lenken uns von uns ab, von den „Tagesthemen“, auf das Wesentliche. Wenn wir sie ernst nehmen, dann fordern sie uns, wie uns nichts je gefordert hat.

Ich tippe diesen Text mit links. Auf meinem rechten Arm schläft mein Baby. Wenn ich es weglege, wacht es auf und schreit. Es hat kein Zeitgefühl. Es kann nicht warten, es kann nicht hoffen, es kann sich nicht erinnern. Ich schreibe und steige langsam wieder ein in das politische Tagesgeschehen, das so berechenbar ist. Ich warte ab, ich hoffe, ich kann nicht vergessen. Eigentlich schade.