: Ein Volk von Sterntalern
Haiti hängt am Tropf der reichen Länder: 64 Prozent des Haushalts sind von außen finanziert, der IWF diktiert die Wirtschaftspolitik ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard
Das Büro von René Preval erweckt nicht den Eindruck emsiger Geschäftigkeit, wie man sie am Sitz eines Mannes erwartet, der in wenigen Wochen als Staatschef seines Landes vereidigt wird. In der Rue Sapotille Nummer 13 von Port-au- Prince herrscht eher gelangweilte Atmosphäre. Die Dame am Empfangsschreibtisch wacht über drei Telefone. Zwei Assistenten begleiten sie in ihrer Tatenlosigkeit. Herr Preval würde erst Erklärungen abgeben, wenn der Provisorische Wahlrat das offizielle Wahlergebnis proklamiere, werden alle beschieden, die nach dem Kurs der künftigen Regierung fragen.
Auf Preval wartet in den nächsten Wochen bereits eine Anzahl äußerst unangenehmer Entscheidungen, die von seinem Vorgänger Jean-Bertrand Aristide auf die lange Bank geschoben wurden. Darunter das leidige Thema der Privatisierung der wichtigsten Staatsbetriebe. Die Zeit drängt, denn die USA haben ein Kreditpaket von mehr als 100 Millionen Dollar eingefroren, weil Aristide den vom Weltwährungsfonds geforderten Verkauf der neun wichtigsten Staatsbetriebe nicht vorangetrieben hat. Die Unternehmen – darunter so strategische Bereiche wie Telekommunikation, Hafen, der Energiesektor und die Wasserwerke – sind größtenteils schwer heruntergekommen und mit Eigenmitteln des Staates gar nicht flottzumachen. Die Privatisierung würde für Effizienz sorgen und der Regierung dringend benötigte Liquidität verschaffen, lautet das Argument der Marktstrategen. Das Zementwerk wurde vom Putschistenregime absichtlich heruntergewirtschaftet, weil sich ein paar Generäle mit dem Zementimport eine goldene Nase verdienen konnten.
Die Putschisten ruinierten absichtlich ganze Branchen
Aristide argumentierte, eine übereilte Privatisierung hätte mehr Schaden als Nutzen gebracht, entwickelte jedoch keine eigene Strategie. Eine von Wirtschaftsakademikern angeführte Plattform für eine alternative Entwicklung, die versucht, Parlamentarier und Kabinettsmitglieder zu beeinflussen, arbeitet seit einigen Wochen an einem Anti-IWF-Plan. Für Rony Smarth, einen Agrarexperten, den der künftige Präsident gern als Chef des Landreformsekretariats hätte, ist das Zeitverschwendung: „Statt das Unmögliche zu fordern, sollte man lieber versuchen, im engen Rahmen, den der Währungsfonds läßt, zu manövrieren.“ Die Rettung aller neun Betriebe sei absolut utopisch, man könne bestenfalls die hochrentable Telefongesellschaft Teleco und vielleicht noch das E-Werk retten.
Denn der Staat ist genauso bankrott wie seine Unternehmen. Der Haushalt 1996 von 11,4 Milliarden Gourdes (ca. 760 Millionen US-Dollar) wird zu 64 Prozent von ausländischen Schenkungen und Krediten gespeist, das Investitionsbudget in den Bereichen Justiz, Gesundheit, Erziehung und Landwirtschaft gar zu 94 Prozent.
Ein Großteil dieser Gelder wird Haiti nie physisch erreichen. So fließen Mittel für die Justizreform in die Taschen US-amerikanischer Experten, die versuchen, den Code Napoleon dem US-amerikanischen Recht anzugleichen.
Haiti, bekanntlich das Armenhaus des Kontinents, wird auf Jahre ein Sozialfall für die Völkergemeinschaft bleiben. Diktator Jean-Claude Duvalier machte sich im Februar 1986 mit schätzungsweise 450 Millionen Dollar davon – damals etwa das Äquivalent der Außenschuld. Die Turbulenzen der folgenden Jahre, in denen drei Generäle einander durch Staatsstreich ablösten, verscheuchten die letzten Investoren. Einheimische Kapitalisten schafften ihre Guthaben ins Ausland.
Wirtschaftswachstum nur durch UNO-Soldaten
Während der jüngsten Militärdiktatur (1991 bis 1994) schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 13,5 Prozent, und die Exporterlöse verminderten sich um 48 Prozent. Derzeit muß das Land fast doppelt soviel importieren, wie es exportiert. Und das fragile Wachstum von 4,5 Prozent des Jahres 1995 ist weniger auf eine Produktivitätssteigerung zurückzuführen als auf die 500 Millionen Dollar an Hilfsgeldern und den Konsum der 6.000 UNO-Soldaten, deren Aufenthalt jährlich 800 Millionen Dollar kostet.
Die Militärs, die Präsident Aristide im September 1991 wegputschten, haben das Land nicht nur heruntergewirtschaftet, sie setzten auch die Zinszahlungen der Auslandsschulden aus. Als Aristide im Oktober 1994 durch eine von den USA angeführte Invasion auf seinen Platz zurückbefördert wurde, mußte er zunächst 82 Millionen Dollar an fälligen Zahlungen leisten, bevor die Hähne der internationalen Finanzinstitutionen wieder geöffnet wurden. Auf Auslandskonten der Republik fanden sich ganze 19 Millionen Dollar, die inländischen Guthaben hatten die Generäle vor ihrem Abschied noch leergeräumt. Den Rest mußte der Präsident bei befreundeten Regierungen zusammenbetteln. Mit rund einer Milliarde Dollar Schulden gehört Haiti gar nicht zu den am meisten verschuldeten Ländern des Kontinents, doch gemessen an seiner geringen Produktionskapazität ist auch die Rückzahlung dieses Betrages utopisch.
Für Camille Chalmers, den Vorsitzenden der Anti-IWF-Gruppe, darf Haiti weder auf massive Auslandsinvestitionen noch auf ein Aufblühen des Tourismus hoffen. Die Anhebung des Mindestlohns auf umgerechnet knapp über zwei US-Dollar pro Tag wurde vom IWF bereits kritisiert und disqualifiziert Haiti als Billiglohnland. Für den Aufschwung des Fremdenverkehrs fehlen die nötige Infrastruktur und die politische Stabilität. So wird von René Preval, der am 7. Februar vereidigt werden soll, geradezu Übermenschliches erwartet. Sein wirtschaftspolitischer Spielraum wird extrem begrenzt sein.
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