„Nicht die Anbieter, die Nutzer sind das Problem“

■ Interview mit dem Medienphilosophen und Internetexperten Mike Sandbothe, wissenschaftlicher Assistent an der Uni Magdeburg, über „Schweinkram“ im Internet

taz: Herr Sandbothe, das Internet ist in Verruf geraten. Zum Jahresausklang gab es im deutschen Fernsehen und in der Presse eine Debatte über dieses neue Informations- und Kommunikationsmedium. Empörung allerorten über Kinderpornographie im Internet. Wie sehen Sie die Diskussion um die Pornos im Netz?

Mike Sandbothe: Ich finde die Internetberichterstattung in den deutschen Medien ziemlich einseitig. Sogar verantwortungslos. Wir leben gegenwärtig in einer technologischen Zweiklassengesellschaft. Es gibt die Informationsreichen, die ans Internet angeschlossen sind, und die Informationsarmen, denen man scheinheilig erklärt, daß das neue Medium nur Schmuddelkram enthält.

Da möchte ich ein wenig gegensteuern. Ich finde es zwar auch nicht richtig, wenn im Internet Bilder veröffentlicht werden, auf denen Kinder zu sexuellen Handlungen mißbraucht werden. Aber es kritisiert ja auch keiner pauschal das Medium Buch, nur weil es Sexromane und Pornoheftchen gibt. Und es meldet niemand sein Telefon ab, weil manche Leute auf die Idee gekommen sind, Telefonsex zu machen. Wer in den letzten Tagen des vergangenen Jahres die Internetmeldungen in der „Tagesschau“ gesehen hat, bekommt den Eindruck, daß es sich beim Internet um eine Versammlung von Sektenwerbern, Pornoanbietern und Perversen handelt. Das können wir Wissenschaftler nicht hinnehmen. Das Internet ist das intelligenteste Denkwerkzeug, das bisher erfunden worden ist.

Was ist daran so intelligent?

Für die Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften bedeutet das Internet eine Revolution, die sich durchaus mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichen läßt. Bücher waren bisher in irgendwelchen Regalen in den Bibliotheken dieser Welt versteckt. Auf das richtige Buch mußte der Wissenschaftler oft Wochen und Monate warten. Das ist im Zeitalter des Internet anders. Bereits heute sind die wichtigsten Texte in vielen Disziplinen online abrufbar. Aristoteles, Kant, Nietzsche, Goethe oder Kafka sowie die entsprechende Fachliteratur hole ich mir heute in wenigen Sekunden aus dem Internet auf den Bildschirm. Das Internet ist ein riesiger Fortschritt für die Wissenschaft. Es ist ein freies Medium, und das ist gut so. Jeder kann im Internet publizieren, jeder kann seine Meinung äußern und sie mit den Meinungsäußerungen anderer verflechten. Darin liegt die Gefahr: Es können Rechtsradikale und Päderasten im Internet publizieren. Und sie tun es.

Was läßt sich gegen übelste Kinderpornos von privaten Anbietern unternehmen?

Die Antwort eines radikalen Demokraten würde da lauten: Solange diese Leute niemanden in seiner Freiheit beeinträchtigen und unter sich bleiben, sollten wir sie hinnehmen. Wir können diese Menschen nicht einfach abschaffen. Das eigentliche Problem scheint mir viel weniger bei den Anbietern zu liegen als bei den Nutzern. Genauso, wie ich im normalen Leben nicht nach Orten suche, wo ich Kinderpornos kaufen kann, genauso sollte ich auch im Internet diejenigen Bezirke meiden, in denen sich Leute mit üblen Vorlieben treffen.

Sie dürfen sich die Sache nicht so vorstellen, als ob ich nur das Internet einschalten muß, und schon stecke ich mit beiden Augen mitten drin in der Pornographie. Das ist nicht der Fall. Ich muß Ihnen gestehen, ich verstehe die Leute nicht, die sich an ihren Internetcomputer setzen und dann bei Beate Uhse oder einem Kinderporno landen. Da muß man schon gezielt suchen und allerhand Tricks beherrschen. Ich bin jetzt seit zwei Jahren im Internet unterwegs und habe noch keinen einzigen nackten Hintern oder Busen zu Gesicht bekommen, geschweige denn einen Kinderporno.

Machen Sie es sich da nicht zu leicht? Muß man im Einzelfall nicht doch etwas unternehmen?

Sicherlich. Aber man darf in Sachen Internet nicht mit der Holzhammermethode vorgehen. Das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft in München haben den Internetprovider „CompuServe“ genötigt, den Zugang zu 200 Internet-Newsgruppen zu sperren, weil in einigen von ihnen Pornobilder und Sexvideos von privaten Anbietern aufgetaucht sind. Die deutsche Zensuraktion, die sich auf vier Millionen CompuServe-Kunden in 140 Ländern auswirkt, hat in den USA unmittelbar zu Protesten geführt. Die Amerikaner kennen die Nebeneffekte solcher Rundumschläge nämlich bereits.

Dort hatte Anfang Dezember der Internetprovider „America Online“ alle Newsgruppen, in denen das Wort „Brust“ vorkommt, gesperrt. Das Ergebnis war, daß plötzlich auch Newsgruppen storniert waren, in denen man Informationen über Brustkrebs, Brustschwimmen oder Hähnchenbrust erhalten konnte. Aus Protest gegen die restriktive Internetpolitik des US-Kongresses haben sich in einer konzertierten Aktion in der zweiten Dezemberwoche täglich bis zu 50.000 aufgebrachte Internetnutzer per Telefon, Fax und E- Mail bei den Abgeordneten beschwert. Die ,Brust-Sperrung‘ wurde von America Online sehr schnell wieder aufgehoben. Mit ähnlichen Nebeneffekten ist natürlich auch bei der Aktion des Münchner Kriminalamtes zu rechnen. Diese Zensuraktion ist wirklich ganz und gar albern. Und ineffektiv noch dazu. Für Leute, die Schweinkram ins Netz bringen wollen, ist es eine Kleinigkeit, ihr Material ganz einfach in einer anderen Newsgruppe mit harmlosem Namen unterzubringen.

Aber ganz ohne Kontrolle geht es doch auch nicht?

Wenn man es mit den Negativseiten einer neuen Technologie aufnehmen will, hilft im Regelfall nur ein Verfahren, das selbst auf dem technischen Niveau dieser neuen Technologie konzipiert ist. So sind bereits vor einigen Monaten in den USA Zusatzprogramme entwickelt worden, die es Eltern erlauben, die Computer, die von ihren Kindern benutzt werden, so einzurichten, daß die Kinder keine sex- oder gewalteinschlägigen Inhalte auf den Bildschirm holen können. Und bei Erwachsenen, die im Internet unterwegs sind, setze ich schlicht voraus, daß sie selbst entscheiden, was sie sehen wollen. Wenn sich jemand für Schweinkram interessiert, dann interessiert er sich halt für Schweinkram. Mein Gott, davon geht die Welt nicht unter. Und wenn der Schweinkram gar zu schlimm ist, dann gibt es längst eine netzinterne Ethik der Nutzergemeinschaft, die dafür sorgt, daß solche Dinge aus dem Netz verschwinden beziehungsweise, daß die Leute, die so etwas publizieren, Ärger bekommen. So ist es vorgekommen, daß Pornopublizierer von der aufgebrachten Internetgemeinde mit Protestschreiben einfach „zugemüllt“ worden sind. Auf diese Art kann man den Internetzugang eines Computers locker lahmlegen. Natürlich kann man Leute, die wiederholt negativ im Internet auffallen, auch anzeigen und strafrechtlich verfolgen lassen. Aber die Behörden sollten hier mit der Netzgemeinschaft zusammenarbeiten und sie nicht durch Hauruckaktionen, die viele Unschuldige mittreffen, verärgern. Weil es so schwer ist, den eigentlichen Urheber dingfest zu machen, versucht man ja, Vermittlungsdienste wie „CompuServe“ zur Verantwortung zu ziehen. Aber da könnte man genausogut auf die Idee verfallen, die Telekom für die Inhalte der Telefongespräche, die auf ihren Leitungen geführt werden, verantwortlich zu machen. Es bringt mehr, wenn man sich auf die Netzethik der Internetgemeinschaft, die sogenannte „Netiquette“, verläßt und die Selbstkontrolle des Systems kräftig unterstützt.