„Ein Lied ist wie ein Kleid, das mich enthüllt“

■ Am Wochenende im Schnürschuh-Theater: Brigitte Reuß, der letzte Versuch, die Diseusen-Kultur zu retten

Früher, auf Klassenfahrt, wollten die Mitschüler schon immer eine Zugabe von ihr: „Ich bin die fesche Lola“, sang Klein-Brigitte da gern im Bus. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sollte man meinen, schließlich war Brigitte Reuß' Mutter Opernsängerin in Bremen. Fehlanzeige: Brigitte Reuß wechselte die Branche und studierte Soziologie. Und arbeitete später in diversen Forschungsprojekten, vorwiegend mit feministischer Attitüde. Doch da fehlte ihr was, wie einige Sitzungen auf der Couch des Psychoanalytikers ergaben. „Die einsame Arbeit am Schreibtisch, das war nichts für mich.“ Brigitte Reuß brauchte Publikum. Sie stellte sich bei der Kabarett-Gruppe „Kontrapunkt“ vor – und sollte drei Lieder einstudieren. So ging's los mit Brigitte Reuß' zweiter Karriere. Heute nennt sie sich Diseuse, Bremens einzige.

Diseuse? Da wird man erst mal stutzig. Yvette Gilbert war eine der ersten, Ende vergangenen Jahrhunderts in Paris. Im legendären Café-Concert „Chat noir“ am Pigalle trat sie auf. Eine singende Schauspielerin. Edith Piaf war keine Diseuse, sondern Chansonnière. Statt in verschiedene Rollen zu schlüpfen, blieb sie immer die Piaf. Von Lust, Liebe und Liebesleid singen sie beide, doch bei der echten Diseuse darf die Improvisation nicht fehlen, das ist ein Unterschied.

Doch wenn Brigitte Reuß improvisieren will, muß ihr Pianist natürlich mitspielen. Deshalb hat sie auch schon einige verschlissen. Nicht zuletzt, weil Beruf und Liebesleben sich nicht immer auseinanderhalten ließen. Mit Klaus Melchers, Rektor der Musikschule Oldenburg, klappt es bestens – am Klavier, beim Improvisieren. Über Lieder von Friedrich Hollaender, Brecht, Tucholsky, Kästner, Claire Waldoff oder Ingrid Caven. Noten und Texte, über die sie in ihre Rollen schlüpfen kann, auch in Männerrollen. Einen Hollaender-Song hat sie dafür geringfügig modifiziert: „Ein Mann wird erst schön durch die Liebe“, singt sie, angetan mit Schirm, Charme und Melone. Zuerst erarbeitet sie sich den Text, dann die Melodie, schließlich muß das ganze zusammenpassen. An eigenen Texten hat sie sich auch schon probiert, aber noch nicht öffentlich. „Ein Lied ist wie ein Kleid, das mich enthüllt“, sagt Brigitte Reuß. Anders ausgedrückt: Sie genießt die Freiheit, die sie als Frau auf der Bühne ausspielen kann, den Kontakt zum Publikum, das sie in der Hand hat. Die Rollenspiele: mal verruchter Vamp, mal Schulmädchen. Doch die Distanz ist ihr genauso wichtig beim Auftritt; die erotischen Versatzstücke, Bestandteil der Verwandlung, will sie kontrollieren können.

Brigitte Reuß klingt ein wenig nach Zarah Leander, etwa in dem Kino-Spot für Dessous, in dem sie zur Zeit zu hören ist – „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Sie singt ohne Mikrophon, so klingt sie rauher, authentischer. „Obwohl es ein Problem ist, was ich mit meinen Händen tun soll.“ Gibt es in Bremen überhaupt ein Publikum für Diseusen? „Bei meinen letzten Auftritten im Packhaus-Theater im November letzten Jahres war ausverkauft.“ In der Provinz dagegen wußte man mitunter noch gar nicht genau, was das ist, was Brigitte Reuß so zum besten gibt. „Das macht ja richtig süchtig“, zitiert sie eine Besucherin in einem Konzert in Bassum. Alexander Musik

6. und 7.1., 20 Uhr, Theaterhaus Schnürschuh, Buntentorsteinweg 145