Mehr Plätze, weniger Vielfalt?

Mit der Errichtung von „Multiplexen“ steht der Kinomarkt vor einem Umbruch: Werden sich die kleinen Häuser gegen die „Giganten“ behaupten können?  ■ Von Sven Lorenzson

Vieles hat sich in Berlin seit dem Mauerfall gewandelt, doch auf dem Kinomarkt der Stadt hat es bislang kaum Veränderungen gegeben. Noch immer wird er stark von kleinen und mittleren Betreibern geprägt. Die (Re-)Privatisierung der Kinos im einstigen Ostteil der Stadt hat diese Situation noch gefestigt, denn meist verpachteten die neuen Besitzer der Immobilien die Theater an bereits im Westen der Stadt tätige Betreiber: So gingen etwa Forum und International an die Yorck-Kino GmbH, Kosmos und Sojus an die Ufa.

Auch an der ungleichen Verteilung des Kinoangebots im Stadtgebiet hat sich nichts geändert: Den knapp 3,5 Millionen Berlinern stehen momentan 59 Kinos zur Verfügung. Aber allein 26 Kinos, also über 40 Prozent, ballen sich rund um den Ku'damm. Kreuzberg und Mitte sind mit je 13 Leinwänden überdurchschnittlich gut versorgt. In den Außenbezirken schwankt die Situation stark. So besitzt das gutbürgerliche Steglitz mit seinen 190.000 Einwohnern nach der im letzten Frühjahr erfolgten Reaktivierung des Titania-Palastes 3 Kinos mit 10 Leinwänden.

Derweil verfügt das zunehmend auch studentisch geprägte Neukölln mit seiner beachtlichen Einwohnerzahl von 314.000 Menschen nur über zwei Kinos mit sechs Leinwänden, die zudem alle in Innenstadtnähe liegen; Britz, Buckow, die Gropiusstadt sind auch kinomäßig Kulturwüste. Ähnliches gilt bislang noch für Spandau (223.000 Einwohner, zwei kleine Kinosäle), Reinickendorf mit Märkischem Viertel (251.000 Einwohner, zwei Säle) und die östlichen Neubaubezirke Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen und teilweise auch Lichtenberg.

Diese Unterversorgung bevölkerungsreicher Außenbezirke läßt ein erhebliches Zuschauerpotential vermuten, das bisher brachliegt, zumal wenn man die große Ausdehnung der Stadt bedenkt, wo eine Fahrt in die City lange dauern kann. An die Berliner müßten sich folglich noch weit mehr Tickets bringen lassen als bislang. Dies sollen nun vor allem „Multiplexe“ erreichen. Im ursprünglichen Sinne handelt es sich dabei um Neubaukomplexe mit rund einem Dutzend Kinosälen, die durch gemeinsame Foyers, Vorführräume und ähnliches einen niedrigen Personalaufwand haben, dem Publikum eine exzellente technische Ausstattung, großen Komfort (gute Sicht, teure Sessel, viel Beinfreiheit) sowie ausreichend Parkplätze bieten. Meist gesellt sich noch (Fast-food-)Gastronomie hinzu sowie ein „Kinoshop“, in dem man Merchandisingprodukte (Tücher, Teller, Figuren zum Film) erwerben kann.

In Großbritannien, dem ersten europäischen Land, in das die Multiplexe vor zehn Jahren aus Amerika exportiert wurden, haben sie den Markt dramatisch verändert: Mit ihren 683 Leinwänden stellten die 76 Multiplexe letztes Jahr 36 Prozent aller Kinos. Zugleich erhöhte sich die Zahl aller Kinobesucher von 54 Millionen im Jahre 1984 stetig auf 124 Millionen im Jahr 1994.

Nach zaghaften Anfängen vor gut fünf Jahren grassiert nun das Multiplex-Fieber auch in Deutschland, wobei hier die innerstädtische, gut an den öffentlichen Nahverkehr angebundene Lage der US-üblichen Plazierung „auf der grünen Wiese“ meist vorgezogen wird; segensreich wirken sich dabei die deutschen Ladenschlußzeiten aus, die die in anderen Ländern oft praktizierte Verbindung mit Einkaufszentren ziemlich sinnlos machen. In Berlin, wo auch weitere Reaktivierungen, Um- und Neubauten von Kinos in der Planung beziehungsweise im Gang sind (so des ehemaligen Aladin in der Spandauer Altstadt mit vier, des neuen Tivoli in Pankow mit drei und des Filmtheaters am Friedrichshain mit fünf Sälen), wird momentan über acht Multiplex-Projekte konkret gesprochen.

So baut die Ufa-Theater AG, die kürzlich auch das Sojus, bislang einziges Kino in Marzahn, mit zwei zusätzlichen Sälen versehen hat, zur Zeit das „Kosmos“ an der Karl-Marx-Allee zum 3.000-Plätze-Komplex aus. Neun neue Säle werden halbkreisförmig um den alten gruppiert; da sie ein halbes Geschoß tiefer und somit unterirdisch liegen, sollen die einzigen sichtbaren Veränderungen am Altbau zwei Türen sein, die rückwärtig aus dem Foyer in einen Umgang führen.

So werden die strengen Auflagen der Denkmalpflege, die das äußere Bild des Solitärbaus wie seine gesamte Substanz möglichst unangetastet wissen wollte, erfüllt. Über den neuen Kinos soll eine Hügellandschaft entstehen, auf die man von einem Terrassencafé mit Biergarten blicken kann, unter dem Kinovorplatz eine Tiefgarage mit rund 170 Stellplätzen. Im kommenden Herbst will die Ufa das neue Kosmos bereits eröffnen, der Spielbetrieb im alten Saal, der modernisiert wird und dabei etwa einhundert seiner Plätze zum Zwecke größerer Bequemlichkeit verliert, soll nur für etwa vier Wochen ruhen.

Ebenfalls im Herbst soll die neue „UCI-Kinowelt“ an der Landsberger Allee nähe Rhinstraße ihren Spielbetrieb mit neun Leinwänden und rund 2.700 Plätzen aufnehmen. Konkurrent Flebbe, der zu den Multiplex-Pionieren in Deutschland gehört, muß sich dagegen noch gedulden: Er richtet im Debis-Komplex am Potsdamer Platz ein Kino mit zwölf Leinwänden und 3.500 Plätzen ein und hegt außerdem Pläne, auch im benachbarten Sony-Block – in dem Mediathek, Kinemathek und das Kino Arsenal mit zwei Sälen unterkommen sollen – ein Multiplex mit zehn Leinwänden und 2.000 Plätzen zu übernehmen.

Flebbe, der selbst eine neunsälige Anlage mit 2,000 Plätzen in Marzahn bauen will, soll außerdem künftig das bislang noch zweisälige, von der Sputnik-Kino KG betriebene Colosseum an der Schönhauser Allee betreiben: Dessen Eigentümer, die Berliner Filmproduzentenlegende Artur „Atze“ Brauner, will auf dem Areal ein zehnsäliges Kinocenter mit 2.700 Plätzen errichten lassen.

Nach den bisherigen Plänen der Hamburger Architektengruppe „me di um“ würde von dem aus einem Straßenbahnbetriebshof entstandenen jetzigen Gebäudeensemble, dessen Flachbauten sich vor allem an der Gleimstraße entlangziehen, trotz Denkmalschutz wenig übrigbleiben: Die Kinofassade an der Schönhauser Allee soll wieder ihr Gesicht aus den fünfziger Jahren erhalten, der hofseitige Teil des jetzigen Saales jedoch ebenso abgerissen werden wie alle anderen Bauten, mit Ausnahme der zweigeschossigen, den Hof begrenzenden Fassaden der früheren Stall- und Werkstattgebäude. Einen überdachten Innenhof mit einer in diesen zur Erschließung der oberen Säle „frei hineingestellten Galerie“ flankierend, würden sie wie Tapeten an über ihnen auskragenden Neubauten kleben, teils auch in diesen verschwinden.

Die Liste der Multiplex-Vorhaben ist damit noch nicht zu Ende: Auch Warner Bros. soll auf Standortsuche sein, und die Ufa verfolgt Pläne für eine Kinoanlage am Alexanderplatz, die mit 15 bis 17 Sälen, rund 5.000 Plätzen und einem „großen Entertainmentbereich“ fast schon die Dimensionen der „Megaplexe“ erreicht, die sich derzeit in USA und England breitzumachen beginnen.

Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch Pläne, die für ein breites Freizeitangebot auf dem Babelsberger Studiogelände kursieren. Als ein potentieller Partner wird dabei der US-Kinobetreiber AMC gehandelt, der die ersten Multiplexe in Großbritannien baute und diesen nun in diversen europäischen Städten „Full Entertainment Centers“ folgen lassen will, mit zwanzig bis dreißig Kinosälen (4.000 bis 6.000 Plätzen), die in den USA nach AMC- Angaben bis zu vier Millionen Besucher jährlich anziehen.

Im Konzept außerdem: bis zu dreißig Fast-food-Anbieter, Restaurants, „Erlebnisgastronomie“, Vernügungen wie Discos und Bowling sowie virtuelle und konventionelle Spielhallen, Kinoshops, Musik- und Videoläden. Für ein einziges derartiges Center kalkuliert AMC bis zu 300.000 Quadratmeter Baufläche, Raum für 2.000 Parkplätze und Baukosten von 50 bis 55 Millionen Dollar (alle deutschen Kinobetreiber zusammen investierten 1994 nach Angaben der Filmförderungsanstalt [FFA] 280 Millionen Mark). „Multiplexe ziehen zwar enorm das Publikum an, stehen aber nicht wirklich im Verhältnis zu den Grundstückskosten. Deshalb integrieren wir andere Freizeitmöglichkeiten, um den Wert zu erhöhen“, erklärte AMC-Europe-Geschäftsführer Bruno Frydman in einer Fachzeitschrift. Äußerungen aus Babelsberg zufolge scheint der Bau eines solchen Mammutcenters zumindest dort aber eher unwahrscheinlich.

Überkapazitäten sind allemal zu befürchten. Thomas Schmidt, Sprecher der Flebbe-Betriebe, die in Spandau nur deshalb nicht auch noch ein Multiplex planen, weil sie kein geeignetes Grundstück gefunden hätten, gab sich jüngst optimistisch: „Bisher funktionieren alle unsere ,Cinemaxxe‘, das wird auch in Berlin nicht anders sein. Der Markt wird sich in den nächsten Jahren dramatisch ändern, wenn die Multiplexe kommen, die Gesamtzahl der Kinobesucher wird sich gewaltig erhöhen!“

„Die Objekte, die jetzt in der Planung sind, gehen weit über den Bedarf hinaus“, meinte hingegen Manfred Bittmann, Geschäftsführer des Wirtschaftsverbandes Berliner Filmtheater. „Wenn das alles gebaut wird, verdoppelt sich die Platzzahl, aber ich wüßte nicht, wie man die Besucherzahlen verdoppeln sollte, ganz abgesehen davon, daß Neubauten eine höhere Auslastung benötigen als bestehende Kinos.“ Eine Entwicklung wie in Essen, wo das Ende 1991 eröffnete „Cinemaxx“ (16 Leinwände, 5.323 Plätze) „reingehauen hat wie eine Bombe“ und sich die Besucherzahlen von 1989 auf 1994 verdoppelten, hält Bittmann in Berlin nicht für möglich: „Natürlich gibt es ein großes ungenutztes Potential, und natürlich wird dies zum großen Teil nur durch Multiplexe zu erschließen sein, aber realistisch zu erwarten sind insgesamt nur zwölf bis vierzehn Millionen Besucher pro Jahr.“

Droht angesichts des zu erwartenden Konkurrenzkampfes den kleineren Kinos das Aus? Zwar schlossen in den letzten anderthalb Jahrzehnten immer wieder Häuser. Doch zugleich entstanden vor allem in Kreuzberg, nach dem Mauerfall dann in Mitte und dem neuen „In“-Bezirk Prenzlauer Berg neue Kinos, die in Fabriketagen eingebaut wurden, oder man reaktivierte alte Säle (zum Beispiel Eiszeit, fsk, Sputnik Südstern, Acud, Blow up, Delta, Nord, Scala, Tilsiter). So nahm die Zahl der Leinwände in Westberlin laut FFA zwischen 1989 und 1994 von 98 auf 116 kontinuierlich zu. Im ehemaligen Ostteil erhöhte sie sich von 28 im Jahr 1991 auf 41 drei Jahre später. Schließen mußten vor allem Kinos, deren Ausstattung, Lage oder Programm nicht mehr den Publikumserwartungen entsprach.

Das Füllen von geographischen wie inhaltlichen Marktlücken, eine geschickte Imagepflege, außerdem oft die Verbesserung der Ausstattung sowie die Ergänzung um einen oder zwei Säle – daß diese Strategien, die schon für die Zunahme der Berliner Kinozahl in den vergangenen Jahren wesentlich waren, auch die erfolgreichsten Mittel zum Überleben des bevorstehenden „Multiplex-Bebens“ sein dürften, bestätigt eine FFA- Studie zu den Auswirkungen der Multiplexe in Nordrhein-Westfalen: Zwischen 1991 und 1994 mußten dort zwar 52 Kinos schließen, zugleich eröffneten aber 30 neu, vornehmlich von jungen Betreibern. Zudem stellte man einen positiven Effekt der Multiplexe auf die „konventionellen“ Häuser fest: Neuerschlossene Besucherschichten kamen auch ihnen zugute, in manchen Regionen wuchs der Kinobesuch um bis zu fünfzig Prozent.