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Das Summen in Vereins-Waben

Raus aus der Dichterklause! Die Neue Gesellschaft für Literatur stärkt AutorInnen den Rücken, eist Gelder los und bringt Literatur zu den LeserInnen. Heute beginnt die Reihe „Literatur vor Ort“  ■ Von Anke Westphal

Die Organisation von Kunst in Strukturen ist in vieler Hinsicht schwierig. Daß Individuelles die kollektive Struktur ausschließt, wird jedoch immer dann widerlegt, wenn sich Kreativität aus finanziellen und strategischen Gründen organisieren muß. Dann gründet die Kunst, auch die Literatur, Vereine. Da heiligt der Zweck dann die Mittel, außerdem läßt sich auch schöpferischer Eigensinn gern durch eine Lobby den Rücken stärken.

Die Neue Gesellschaft für Literatur Berlin ist ein Kind des Schriftstellerverbandes (VS) und der Studentenbewegung. Sie firmiert als eingetragener Verein mit anerkannter Gemeinnützigkeit und wurde 1973 von Ingeborg Drewitz und anderen Autoren gegründet, um „Literatur und Menschen zusammenzufassen“.

Die Lobby

Nun möchte man meinen, daß dies bereits im Rezeptionsprozeß, also während der Lektüre, geschieht. Doch der Neuen Gesellschaft für Literatur ging es zu Zeiten ihrer Gründung noch um andere, auch heute gültige Aufgaben: um die Begegnung der Literaturen Ost und West und darum, eine breite Basislobby für die Autoren und ihre Produkte zu schaffen, wenn es in Abgeordnetenhaus und Senat um die Verteilung der Fördergelder geht. Im angloamerikanischen Raum nennt man so etwas networking.

Jeder kann Mitglied der Neuen Gesellschaft für Literatur Berlin werden und so „das Verständnis der Literatur fördern helfen“. Bisher setzten sich sechshundert Mitglieder dieses schöne Ziel. Weil aber Struktur wiederum nur in ihren Organisationsformen sichtbar wird, ist der Kulturkonsument eher mit Begriffen wie den „Berliner Autorentagen“, den „Berliner Hörspiel“- oder „Märchentagen“ vertraut, und die klingen weniger abstrakt.

Der Werkstattgedanke

Auch wenn man weiß, daß eine entwickelte Kultur durch den Stand ihrer Theoriebildung repräsentiert wird und das Merkmal einer fortgeschrittenen Zivilisation ihre demokratische Organisiertheit ist, so mutet es immer noch ein wenig unheimlich an, wie nahezu jede Facette von Politik, Kunst und Leben institutionalisiert wird.

Die verschiedenen Untergruppen der NGL Berlin scheinen jedenfalls auch in historischer und geographischer Hinsicht Sinn zu machen. Seit 1978 findet unter Schirmherrschaft der NGL die „Biennale kleiner Sprachen“ statt. Arbeitsgemeinschaften für „Kinder- und Jugendbuchautoren“, „Phantastische Literatur“, „Internationale Autor/innen“ und Hörspielautoren („Ohrenweide“) gehen auf einen integrativ und basisdemokratisch verstandenen Werkstattgedanken zurück und erinnern die Schreiberin dieser Zeilen nicht wenig daran, daß es diese Form der durch „Fachkräfte“ angeleiteten Kunstproduktion an der Basis schon einmal gab – in den „Zirkeln schreibender Arbeiter“ der DDR.

Die unüblicheren unter den Veranstaltungsorten wiederum, Strafanstalten, Obdachlosenheime und Jugendzentren, beschwören die – durch Namen wie Salman Rushdie oder Taslima Nasrin wieder im Diskurs befindliche – Idee von der gesellschaftlichen Aufgabe des Autors. Nach dem Fall der Mauer und der politischen Umordnung der Welt verdoppelte sich die Mitgliederzahl der NGL durch Zulauf aus dem Ostteil Berlins von 300 auf 600.

In Anlehnung an den um die Jahrhundertwende legendären Friedrichshagener Dichterkreis gibt es zum Beispiel seit 1991 einen Friedrichshagener Kreis, dessen Bedeutung sich nicht in seiner bloßen Existenz erschöpft, obwohl der Brückenschlag zu klingenden Namen aus der Vergangenheit wie dem Wilhelm Bölsches ausgesprochen mutig ist. Tandemlesungen von Autoren Ost/West im Rathaussaal von Johannisthal und Werkstattgespräche in der Treptower Ernststraße sollen „Literatur vor Ort“ und, auch wenn's erschreckend kleinzellig klingt, in die – in diesem Falle Südostberliner – Wohnstuben bringen.

Marianne Eichholz eröffnet nun eine neue Reihe von Lesungen unter dem Titel „Literatur vor Ort“. Eichholz gehörte 1973 zu den ersten Vorstandsmitgliedern der Neuen Gesellschaft für Literatur. Die Journalistin, Lyrikerin und Hörspielautorin chiffriert ihre jüngsten Botschaften in klassischer Form; ihr Gedicht „Berliner Sektorenübergang oder neues Wintermärchen in der Heinrich-Heine- Straße“ liest sich wie eine überbetitelte Paraphrase auf Goethes „Erlkönig“.

So wie mit Eichholz' Lyrik verhält es sich auch ein bißchen mit dieser Neuen Gesellschaft für Literatur Berlin: Sie trägt einen etwas zu prätentiösen Namen und läßt es doch immerhin in vielen kleinen Kunst-Waben summen.

Marianne Eichholz liest heute abend um 20 Uhr im Kulturhaus Mitte, Rosenthaler Straße 51

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