ÖTV droht mit Massendemonstration

Streit um Arbeitszeitverkürzung für 174.000 Beschäftigte: ÖTV-Chef Kurt Lange warnt Große Koalition vor Vertragsbruch. Betriebe sollen eine halbe Milliarde Mark mehr Steuern zahlen  ■ Von Dirk Wildt

Die ÖTV will ihre Mitglieder gegen Pläne der Großen Koalition mobilisieren, die Arbeitszeit für Beschäftigte im öffentlichen Dienst ohne Lohnausgleich zu verkürzen. ÖTV-Landesvorsitzender Kurt Lange kündigte gestern noch für Januar „flächendeckende Protestaktionen“ der insgesamt 174.000 Beschäftigten an, sollten die Löhne und Gehälter bei der diskutierten Verkürzung der Arbeitszeit um ein Zehntel ebenfalls um ein Zehntel reduziert werden. In diesem Fall sollte dann etwa der Stundenlohn erhöht werden.

ÖTV-Chef Lange warf der Großen Koalition vor, in den vergangenen Jahren das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen zu haben und nun auf Kosten des öffentlichen Dienstes sparen zu wollen. Die Gewerkschaft sei nur unter der Voraussetzung bereit, mit der Koalition zu verhandeln, wenn die zu erbringende Sparsumme von 23 Milliarden Mark bis Ende 1999 „sozial gerecht“ verteilt werde.

Mindestens zwei Bedingungen müßten CDU und SPD schon vor möglichen Tarifverhandlungen erfüllen. Zum einen soll der künftige Finanzsenator die Steuerrückstände von zwei Milliarden Mark eintreiben. Allein in diesem Jahr könnte das Land so zwischen einer halben und ganzen Milliarde Mark zusätzlich einnehmen. Die Zahl der Betriebsprüfer in der Finanzverwaltungsrolle soll vervielfacht werden, denn weitere zwei Milliarden Mark Steuerrückstände hätten mangels Personal noch nicht festgestellt werden können. Ein Betriebsprüfer koste das Land Berlin weniger als 100.000 Mark. Dieser erwirtschafte im Jahr allerdings 1,2 Millionen Mark Einnahmen.

Zum anderen soll Berlin die Gewerbesteuer erhöhen. Sie sei im Bundesvergleich am allerniedrigsten, obwohl sich in der Vergangenheit „kein einziger“ Betrieb wegen dieser Steuererleichterungen in Berlin angesiedelt hätte. ÖTV-Sprecher Ernst-Otto Kock schätzte die Gewerbesteuereinnahmen für das laufende Jahr auf 800 bis 900 Millionen Mark. Diese Einnahme könne um bis zu 500 Millionen Mark auf 1,4 Milliarden Mark erhöht werden. Die Belastung für einen Betrieb, der im Jahr 30.000 Mark Gewinn erwirtschaftet, würde dabei nur um 350 Mark steigen.

ÖTV-Chef Lange bergüßte, daß die Koalition mit der in den neuen Bundesländern überdurchschnittlich schnellen Erhöhung der Löhne und Gehälter für die öffentlich Bediensteten im Ostteil den Haushalt zusätzlich belastet hat, da diese Ausgaben „den sozialen Frieden“ gesichert hätten. Zu dieser Art von Ausgaben zählte er einen kurz vor den Abgeodnetenhauswahlen im Oktober mit der BVG abgeschlossenen Vertrag, in dem betriebsbedingte Kündigungen der Beschäftigten ausgeschlossen werden. Der ÖTV-Chef begrüßte ebenfalls den unmittelbar vor der Wahl ausgehandelten Kita- Vertrag, der die Größe von Kindergruppen und die Zahl der verfügbaren Erzieher tariflich festschreibt.

Überlegungen der Großen Koalitionen, nun zum Teil entgegen diesen Verträgen Tausende von Stellen abzubauen, bezeichnete Lange angesichts der hohen Arbeitslosigkeit als „arbeitsmarktpolitische Geisterfahrt“. Die ÖTV geht zwar auch davon aus, daß rund 22.000 der 174.000 Stellen gestrichen werden müssen, doch sprach sich Lange dafür aus, die Stellen nicht abzubauen, sondern die knapper werdende Arbeit gerechter zu verteilen. Derzeit arbeiteten die Ostangestellten 40 Stunden, Beamte 39,5 Stunden sowie Angestellte und Arbeiter im Westteil 38,5 Stunden in der Woche. Die Arbeitszeit könnte für alle auf eine 38,5-Stunden-Woche reduziert werden, wenn der Verdienst nicht entsprechend falle. Dieser Schritt allein würde nicht genügen, die Personalkosten für 22.000 Stellen einzusparen. Lange zeigte sich aber zuversichtlich, daß gemeinsam mit anderen Vorhaben wie etwa vermehrter Teilzeitarbeit die Zahl der einzusparenden Stellen „überkompensiert“ werden könnte. Allein bei einer konsequenten Reform der Verwaltung würden Arbeitsabläufe so effektiv, daß von Jahr zu Jahr die Kosten in der öffentlichen Verwaltung um 200 Millionen Mark fallen würden. Lange verhehlte allerdings seine Zweifel nicht, daß die Große Koalition bei der Reform der Verwaltung wesentlich vorankommt: „Die Pfeiffen, die da dran sitzen, sind doch keine Arbeitgeber.“

Das Land Berlin zahlt an Personalkosten zur Zeit 15 Milliarden Mark und an Sach- und Verwaltungskosten 5,7 Milliarden Mark jährlich. Das ist jede zweite Mark der gesamten Ausgaben Berlins. Bevor aber die ÖTV einer Arbeitszeitverkürzung auf freiwilliger Basis zustimmen würde, müßte die Koalition die Rahmenbedingungen geklärt haben, sagte Lange. So müßte den Beschäftigten, die weniger arbeiten wollten, ein „gleitender Einstieg“ ermöglicht werden. Außerdem müßte ihnen die Möglichkeit erhalten bleiben, eine Teilzeitstelle wieder zu einer Vollzeitstelle umzufunktionieren. Eine der größten Probleme sei die später niedrigere Rente. Deshalb forderte ÖTV-Sprecher Kock, daß das Land Berlin auch für Teilzeitbeschäftigte volle Rentenbeiträge zahlt.

Die Stimmung zwischen öffentlichem Arbeitgeber und den Gewerkschaften wird sich in den kommenden Wochen auf jeden Fall verschärfen. Lange legte gestern nämlich dem Senat nahe, erst einmal mit betriebsbedingten Kündigungen zu drohen, um die Gewerkschaft an den Verhandlungstisch zu bekommen. Ohne solche Drohungen habe die Gewerkschaft kein Interesse daran, über die Verschlechterung von Tarifverträgen zu reden.