Im Eis tauen die Friesen auf

Wenn es im niederländischen Friesland noch drei oder vier Nächte streng friert, kommt es demnächst zum Elfstedentocht: dem 200-km-Schlittschuh-Marathon  ■ Von Egon Boesten

Sie gelten im eigenen Land als stur, nicht besonders freundlich. Ihre Sprache ist eigenständig, in der Provinz auch Amtssprache, wird an den Schulen gelehrt und von der Hälfte der knapp über 600.000 Friesen im Norden des Landes gesprochen. Dennoch sieht sie so mancher Niederländer außerhalb der Provinz Friesland ihr Idiom herablassend eher als Gebrechen denn als Verständigungsmittel an.

Doch wenn die touristische Saison zu Ende ist, rückt die außergewöhnlichste Region der Niederlande ins Blickfeld. Ab Anfang Oktober öffnet der friesische Eistempel Thialf seine Pforten für die Eisschnelläufer des Landes. Ab November dürfen sich die „Schaatser“ ernsthaft Hoffnungen auf „Schaatsen op Natuurijs“ machen, wie das Eislaufen auf Kanälen und Seen genannt wird. „Wenn es anfängt zu frieren – tauen die Friesen auf“, heißt es im Volksmund. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Wer sich im Sommer schon einmal über Flutlicht- und Lautsprechermasten auf Wiesen in Friesland gewundert hat, kann zum Beginn des neuen Jahres sehen, wozu sie benötigt werden. Die umliegende Fläche wird geflutet – eine Aufgabe des örtlichen Ijsclubs in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr. Und schon beim ersten Bodenfrost sind die unter Wasser stehenden Felder als exzellente Eislaufbahnen zu benutzen, für „Kortebaan-wedstrijden“ oder „Schaatsmarathon“; Sprint oder Langstrecke – jeder kommt hier auf seine Kosten. Es ist keine Übertreibung: Nahezu jede zweite Gemeinde in Friesland verfügt über ein eigenes Eisfeld.

Wenn es anfängt zu frieren, wird aber auch öffentlich die Frage diskutiert: „Gibt es den Elfstedentocht?“ – Eine bange Frage, denn nicht jedes Jahr sind die Eisverhältnisse in Friesland so, daß sie den 200-Kilometer-Schlittschuhmarathon zulassen. Nur 14mal klappte es in diesem Jahrhundert mit dem berühmtesten Schlittschuh-Marathon der Welt.

Für den Elfstedentocht bedarf es einer längeren Frostperiode. Erst wenn alle Gebiete zwischen Dokkum im Norden, Sloten im Süden und dem Ijsselmeer signalisieren: 15 Zentimeter dickes Eis – erst dann gibt die Vereinigung den offiziellen Startschuß. Einen Tag vor dem Nationalereignis, das mehr als eine Million Menschen live vor Ort verfolgen und noch einmal acht Millionen am Fernseher, findet die Einschreibung in die Starterlisten statt. Obwohl vom Prinzip her jeder mitmachen darf, gilt: Mitglieder der Vereinigung kommen zuerst dran. Was 1985 und 1986 zur Folge hatte, daß es einen Aufnahmestopp gab. Der Grund: Mehr als 16.000 dürfen nicht aufs Eis.

Die klassische Strecke mißt rund 200 Kilometer entlang der elf Städte Frieslands: Über Sneek, Ijlst, Woudsend und das Slotermeer steht der Kontrollpunkt Sloten auf dem Programm für Wettkampf- und Breitensportler. Nach Balk kommt mit Stavoren am Ijsselmeer der südlichste Punkt der Route. Hindeloopen mit dem Wassertürmchen ist zweifellos der idyllischste Fleck. Irgendwo zwischen Workum und Bolsward ist dann die Hälfte der Strecke erreicht. Die Städte Bolsward, Harlingen am Wattenmeer und Franeker sind aber nur Zwischenstationen vor dem mühsamsten Abschnitt. 47,3 Kilometer sind zwischen den Kontrollpunkten in Franeker und der nördlichsten Stadt Frieslands, Dokkum, zu überbrücken. Danach geht es nur noch runter – knapp über 23 Kilometer zum schiefen Turm der südlich gelegenen Provinzhauptstadt Leeuwenwarden, zum Oldenhove am Prinsentuin: das Ziel.

Der Lehrer Harry van Asten (53) aus dem nordholländischen Schagerbrug kam am 21. Februar 1985 beim 13. Elfstedentocht einige Sekunden vor Mitternacht ins Ziel, als 13.290ster. Nach Mitternacht hätten die Verantwortlichen unerbittlich die Teilnahmebestätigung verweigert. Eine Riesenfreude hatte auch ein Jahr später ein Hobby-Läufer, der sich unter dem Namen W.A. van Buuren hatte eintragen lassen. Schon eine Stunde vor Schließung der Zielstelle fiel Mijnheer van Buuren beim 14. Elfstedentocht im Jahr 1986 seiner Mutter glücklich in die Arme. Beim nächsten Elfstedentocht – das steht jetzt schon fest – wird dieser Läufer allerdings unter seinem richtigen Namen an den Start gehen: Prinz Willem Alexander, Thronfolger von Königin Beatrix der Niederlande.

Wann das sein wird, ist derzeit noch die heißdiskutierte Frage: In drei Städten, nämlich Leeuwenwarden, Sneek und Bolsward, war das Eis gestern noch nicht so, wie es sein muß. Wenn es noch drei oder vier Nächte streng friert, so hofft man, könnte es noch einmal vier Tage später losgehen. George Hulskramer, Jugendbuchautor aus Amsterdam, spricht vielen seiner Landsleute zwischen Groningen und Maastricht aus der Seele: „Wir werden ein vereinigtes Europa, wir können die ganze Welt kaufen; aber wenn es friert, machen wir das, was andere nicht machen: Wir laufen Schlittschuh auf Natureis, und das freut uns. Das ist Teil unserer Identität.“