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: Das Woodstock der Bier-Junkies

„Der Frohsinn als Ernstfall“, Mittwoch, 21.55 Uhr, ARD

Die Keimzelle der deutschen Heiterkeit ist der Kegelclub. Einmal pro Woche rotten sich in den unterschiedlichen Provinzen Millionen von Vergnügungssüchtigen zum gemeinsamen Kugelschieben zusammen, in der Regel nach Geschlechtern sortiert. Zwar gibt es auch Kegelclubs für Ehepaare, aber so richtig in die Vollen geht es nur getrennt. Um die Exzeßbedürfnisse der Kegelbrüder und -schwestern nach Kräften zu befriedigen, richtete die Deutsche Bundesbahn in den siebziger Jahren sogenannte Sambazüge ein. Zwischen A und B galt es, die mitgebrachten alkoholischen Süßgetränke zu vertilgen. Männergruppen trafen auf Frauenbanden, und orgiastische Töne schrillten bald, meist ganz ohne Feindberührung, durch die Waggons. Im Zug kam der regressive Frohsinn erst so richtig in Fahrt. Der „Sauerland Stern“ in Willingen ist eine stationäre Ausgabe des Sambazugs. Im Standard eines Mittelklassehotels werden Kegelclubs und andere Gruppen zwecks intensiver Amüsiervorhaben aufeinander losgelassen. Der alltägliche Wahnsinn feiert Bergfest.

Eine Fernsehdokumentation über die niedrige Belustigungspraxis hat leichtes Spiel, denn schon bald haben die Freizeitler die Anwesenheit der Kameras vergessen und geben unerbittlich ihren Frohsinnsbestrebungen nach, gute Laune über die Schmerzgrenze hinaus. Das Kanzlerwort vom Freizeitpark Deutschland, hier wurde es erfunden. Während die großen Prolofeste, z.B. Maske gegen Rocky, sich mit Gesangsdarbietung und Laser-Show eine bombastische Einzigartigkeit zu verleihen suchen, hat der „Sauerland Stern“ zu Willingen den Charme einer durchschnittlichen Dorf-Disco. Zum Show-Höhepunkt reitet ein Westernheld auf lebendigem Pferd in die Kneipe ein, ein Tresenwitz in Lebensgröße. Man darf leere Tische sehen, ist des Unterhaltungskünstlers Motto, aber nie leere Augen.

Der Kameramann hat aufgepaßt und liefert prompt serienweise Studien zum Thema glasiger Blick. Gierige Küsse unförmiger Menschen und gnadenlose Bekundungen zu guter Stimmung lassen einen rasch einstimmen in das hämische Metapherngeklingel des Off-Kommentators. Die Deutschen können nicht feiern, denn vermutlich ist Willingen nichts als die konfektionierte Form des gewöhnlichen Gelages. Alkohol mit Stumpfsinn plus Verklemmung. Schwer zu sagen, ob man da lachen oder weinen soll, denn hinter den profanen Bildern steckt die Ahnung, daß dies die repräsentative Festkultur der Deutschen sein könnte, Fortsetzung von „Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht“, wenn die Kameras abgeschaltet sind.

Den feiernden Griechen denkt man sich tanzend zu Bouzouki- Klängen, der Russe spielt sehnsuchtsvoll Balalaika. Die übergewichtigen Deutschen haben nichts als Bier zum Schifferklavier. Und trotzdem: Ist das nicht immer noch mehr als alles uniforme Volksmusikschunkeln, das uns die Fernsehunterhaltung dauernd zeigt? Harry Nutt