Marihuana, Rock 'n' Roll und Vietnam

Wir gedenken unserer Siegermacht – Nachrufe auf den US-Soldatensender AFN in Film und Buch  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Wenn man zurückschaut, verändert sich die Bedeutung der Vergangenheit. Die meisten, die Anfang der 80er Jahre nach West- Berlin zogen, hatten das Gefühl, in eine Stadt zu kommen, die ein fragiles Provisorium war. Daß der Zauber der Stadt, ihre paradoxe Offenheit und die politischen Hoffnungen, die man mit West- Berlin verband, vor allem damit zu tun hatten, daß hier eigentlich noch die Nachkriegszeit herrschte, verstanden ansatzweise eigentlich nur die Reaktionäre.

West-Berlin war anders. Anders als „Westdeutschland“, wie man mit verächtlichem Unterton gern sagte. Westdeutschland war fertig, die Inselstadt dagegen in zwei Richtungen offen. In die Zukunft: man träumte von „dritten“ Wegen, und in die Vergangenheit: im obligatorischen Hinterhof gab es noch Einschußlöcher, und im Radio gab's AFN.

Anfang der Achtziger hatten sich zwar schon einige andere Sender darangemacht, die „Klangfarbe“ des Soldatensenders zu kopieren; den Zauber von AFN jedoch erreichten sie nie. Denn AFN hörte man ja nicht nur wegen der Popmusik und der Top 40, sondern vor allem wegen der Moderatoren, die einem – mehr als der musikmäßig viel interessantere BFBS – ein diffus melancholisches Gefühl von Weite vermittelten. Im Gegensatz zu den ostentativen Gutdraufseinsbemühungen der hundert Sender, die inzwischen das AFN- Muster zum Mainstream haben werden lassen, wirkte die Fröhlichkeit der AFN-Sprecher normal.

Bis in die Siebziger war AFN der Sender einer mehr oder weniger rebellischen Jugendkultur. In den Achtzigern verkleinerte sich die AFN-Gemeinde. Wo früher ständig AFN lief, um das West- Berlin-Gefühl zu verstärken, hörte man jetzt Radio 100 oder BFBS. Nach dem Mauerfall führte AFN schließlich nur noch ein Nischendasein. Am 15. Juli 1994 stellte der Sender seinen Berliner Betrieb ein – ein Ende, das nicht allzusehr betrauert wurde.

Inzwischen gibt es ein paar längere Nachrufe. Während sich „Coca-Cola, Jazz & AFN“, ein großformatiges, reich illustriertes Buch von Tamara Domentat, sachkundig und liebevoll um die unterschiedlichsten Aspekte des Verhältnisses zwischen Berlin und seiner Lieblingssiegermacht kümmert – es geht nicht nur um AFN, sondern auch um deutsch-amerikanische Liebesgeschichten, Orte des amerikanischen Lebens in Berlin, Spionage und die antiamerikanische Propaganda der DDR –, versucht der (ein wenig zusammengestückelt wirkende) Dokumentarfilm „Radio Star“ von Hannes Karnick und Wolfgang Richter die Geschichte von AFN nachzuzeichnen.

Ehemalige Moderatoren erinnern sich. Irgendwo in den USA oder in Berlin oder auf einer Rheinfahrt für verdiente Radioveteranen. Mittfünfziger, die über AFN sozialisiert wurden.

Im Juli 1943 ging AFN in England auf Sendung, um die Moral der auf den D-Day wartenden US- Truppen zu heben. Die erste feste Sendestation nahm am 8. Juni 1945 ihren Betrieb auf. Ab dem 4. August 1945 sendete AFN aus Berlin. Ende 1945 übertrug man die Nürnberger Prozesse live. Doch das vordergründig erzieherische Moment lag dem Soldatensender eher fern. Statt dessen versuchte man durch Lifestyle und Unterhaltung zu überzeugen.

Während sich das öffentlich- rechtliche Medienwesen der BRD noch als pädagogische Aufklärungsanstalt verstand, war AFN der Freund junger Rock-'n'-Roll- und Jazz-Rebellen. Gegenüber den Nazi-Eltern, denen die „Kulturbarbarei“ der Amis zuwider war, fühlten sich die jungen AFN- Hörer so ähnlich wie die Punks der 80er Jahre. 1957 hörten zwei Drittel der deutschen Oberschüler ausschließlich oder überwiegend AFN. Besonders schätzte man die kleinen Scherze der Moderatoren. „Man meinte, ein Freund spricht ins Mikrofon.“

Die Veteranen erzählen im Film allerlei Anekdoten: Eine nackte Frau im Soldatenmantel habe vor einer AFN-Station die amerikanische Flagge gehißt, ein beliebter deutscher Moderator habe „hessisch mit amerikanischem Akzent“ gesprochen. Von Zensurbestimmungen während des Vietnamkriegs ist die Rede oder davon, daß, im Gegensatz zum Film, das „Good“ in „Good Morning Vietnam“ langgezogen wurde. Daß AFN ein Soldatensender war und daß Soldaten dazu da sind, Leute totzumachen, hatte man in Deutschland bis zur Studentenrevolte vergessen. Nur ansatzweise geht der Film auf das ambivalente Verhältnis der Linken zu AFN ein. Kurz spricht jemand von dem Schock, den es für viele bedeutet habe, daß die Amerikaner, die Rock 'n' Roll, Marihuana und eine bis dahin eher unübliche Lockerheit nach Deutschland gebracht hatten, in Vietnam als Kriegsverbrecher agierten und AFN auch die zensierte Propagandaanstalt einer Kriegsmaschinerie war. Eine Propagandaanstalt allerdings, die gleichzeitig – und sozusagen postmodern – auch den sogen. „Antiamerikanismus“ vorbereitete.

Seltsamerweise geriet die Tatsache, daß AFN ein Militärsender war, auch später wieder in Vergessenheit. Mit der Begründung, daß AFN nie ein Soldatensender gewesen sei, setzte sich der medienpolitische Sprecher der Grünen, Rupert von Plottnitz, zum Beispiel im März 1994 für den Fortbestand der Frankfurter Sendestation ein.

Irgendwie stimmte die Berliner Premiere des Films am Donnerstag ein bißchen wehmütig. Nach der Vorstellung blieben nur wenige, um den Alt-Rock-'n'-Rollern Jacky and the Strangers zuzuhören. Der schwergewichtig-sympathische Jacky singt so schön wie kaum ein anderer „Now or never“ und spielt seit Elvis' Tod mit Trauerflor an der Gitarre. Draußen stand die Nachtigall von Ramersdorf und erzählte, daß er zur Zeit in einer autobahnnahen Notunterkunft haust.

„Radio-Star – Die AFN-Story“ von H. Karnicke/W. Richter, Kant- Kino, täglich, Kantstraße 54

Tamara Domentar: „Coca-Cola, Jazz & AFN“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 205 S., 68 DM