Mann ohne Marktwert

■ Obdachlose existieren in Tokio offiziell nicht - aber es gibt sie. Der Bahnhof Shinjuku ist für viele Endstation. Ausgemusterte Arbeiter leben hier in Pappkartons. Einer von ihnen nennt sich Lucky Sun

Die Regenschirme sind sein ganzer Stolz. Rot-weiß gestreifte, grüne, blaue, weiße hängen nebeneinander auf der Wäscheleine, 13 Stück hat er schon. Die Leute haben sie liegengelassen, in der U- Bahn, im Park, manche standen auch achtlos in der Ecke eines Kaufhauseingangs. Togashi Sunneroku ist froh, daß er sie jetzt hat. Drei nebeneinander aufgespannt schirmen ihn ab von ungebetenen Blicken, denn jeder, der an seinem Zuhause vorbeigeht, kann hineinsehen. Eigentlich ist es noch nicht einmal eine Hütte. Eher eine Kiste, zweieinhalb Meter lang, 60 Zentimeter breit, knapp hüfthoch. Material: dünne Pappe, von braunem Packband zusammengehalten. Wenn Togashi Sunneroku, genannt „Lucky Sun“, mit sich allein sein will, spannt er die Regenschirme über den Karton. Dann hört er nur noch das Klackklack der vorbeihastenden Schuhe.

Lucky Sun wohnt auf dem größten und unübersichtlichsten Verkehrsknoten der Erde. Seine Pappkiste steht am Westausgang des Bahnhofs Shinjuku, durch dessen gekachelte Gänge täglich mehr als zwei Millionen Menschen hasten. Schlechte Luft und gleißendes Neonlicht treiben ihm eine permante Entzündung in die Augen. Das stört ihn sowenig wie der Dauerlärm, sagt er.

Seit sieben Monaten lebt er in seiner Kiste. Nicht nur für Lucky Sun ist der Bahnhof die Endstation. In den Gängen auf der Westseite reiht sich Pappkarton an Pappkarton, einige mannshoch, andere mit Stricken aneinandergebunden, viele kunstvoll angemalt: Auf der einen schwimmt ein blauer Wal, auf der anderen steigt blutrot die Sonne über die Berge auf. In Bahnhof von Shinjuku versuchen 600 Menschen sich einzurichten. Offiziell existieren die Obdachlosen nicht, kein Japaner sei wohnungslos, heißt es in der Stadtverwaltung. Doch jeden Mittwoch demonstriert Lucky Sun den Politikern, daß er da ist.

Pünktlich um drei trifft er sich mit einem Dutzend anderer Männer am Kiosk vor dem Eingang zum Odakyu-Kaufhaus. Zehn Minuten später sitzen sie bereits mitten in der Empfangshalle des Rathauses, rollen ihre Spruchbänder aus, verteilen Flugblätter, die Aktivisten der maoistischen Splitterpartei „bund“ gedruckt haben und warten auf die Hauspolizei. Keine zwei Minuten dauert es, bis fünf Blauuniformierte sich vor die Gruppe stellen, was sofort die Attraktivität für die Rathausbesucher erhöht. Zwanzig Minuten dauert das Sit-in, dann erhebt sich die Gruppe und wandert zurück zum Bahnhof.

Daß der Staat ihnen, die keinen Wohnsitz haben, weder mit einem festen Haus helfen will noch mit Sozialhilfe einspringt, versteht Lucky Sun ja noch. Verbittert ist er aber, weil sich seit Wochen hartnäckig das Gerücht hält, die Stadtverwaltung wolle in diesem Winter ihre Pappbuden aus dem Bahnhof räumen. Wieder einmal. Wie im vorletzten Februar, als die Hütten noch an der Ostseite standen. Frühmorgens tauchte ein Räumtrupp der Polizei mit gezückten Knüppeln auf und schlug auf die Pappkisten ein. Die Männer hatten gerade noch Zeit, ihre Siebensachen zu greifen, bevor die Stadtreinigung die Pappen aufsammelte und das Terrain mit Feuerwehrschläuchen unterspülte. Sun und seine Freunde nächtigten im Park. Zwei von ihnen erfroren. Aufgeregt hat sich kaum jemand über die brutale Vertreibung. Lucky Sun fürchtet, daß es in diesem Winter ähnlich zugehen könnte. „Wenn sie das wirklich machen, sollen sie uns zuvor sagen, was wir tun sollen. Wir sind doch keine Tiere, wir verstehen Japanisch. Einer soll mal sagen, wohin wir im Winter gehen sollen.“ Nicht ein Stadtpolitiker ist zu ihnen gekommen.

Eine Zeitlang ließen sich abends ein paar Jesutitenpadres blicken. Sie brachten Reis und milde Worte. Jetzt nehmen sich Hare-Krishna-Jünger ihrer an. Wenn abends um sieben ein vielstimmiges „Hare-Krischna-hare- Rama“ durch die Halle tönt, weiß Lucky, daß Essen da ist. „Suppe und eine Handvoll Reis verteilen sie, wenn sie fertig mit ihrem Gesang sind.“ Dieser Tag ist der einzige in der Woche, an dem Lucky auf zwei Mahlzeiten kommt. Normalerweise besteht sein Speiseplan aus einer dünnen Nudelsuppe, die er sich in der Armenküche des Stadtteils abholt. Dort kann er sich auch die Geschwüre an den Füßen neu verbinden lassen. Tokios Obdachlose betteln nicht. Sie leben von dem, was von der Wohlstandsgesellschaft für sie abfällt.

Lucky Sun ist jetzt 49 und sagt von sich selbst: „Ich habe keine Kraft mehr, ich bin zu alt.“ Geboren wurde er auf Hokkaido, im nördlichen Armenhaus von Japan. Ihrer Naturschönheiten wegen wird die Region gerühmt, die Berge, der Schnee, die Thermalquellen, Tiere in freier Wildbahn lassen sich beobachten. Nur Arbeit gibt es seit jeher nicht. Die suchte sich Lucky Sun als Jugendlicher in Tokio. In einem Betrieb, der elektronische Teile für Panasonic zulieferte, fand er als Ungelernter Arbeit. Vor zwölf Jahren machte die kleine Firma pleite, Lucky Sun verdingte sich als Straßenbauer. In Shinjuku asphaltierte er in den 80er Jahren die Straßen. Er hatte einen Monatsvertrag, der sich solange verlängerte, wie die Firma Aufträge hatte. Um eine Wohnung mußte er sich nicht kümmern, alle Arbeiter wohnten in einem Heim. So, wie es in Japan üblich ist.

Vor fünf Jahren war alles getan. Lucky Sun hatte sich krankgearbeitet. Er nicht allein, 60 Prozent der Obdachlosen, die auf dem Bahnhof campieren, waren im Straßenbau beschäftigt. „Als wir ihre Häuser fertiggebaut hatten, haben sie uns auf die Straße geschmissen“, sagt Lucky Sun. Zurück in den Norden kann er nicht. Seine Eltern sind lange tot, Geschwister hat er keine. Der Bahnhof ist sein Zuhause geworden. Er hat sich mit seinem Dasein abgefunden. Dienstags und freitags geht er hinüber in den Shinjuku- Park beim Rathaus und wäscht am Brunnen seine Wäsche, mittwochs demonstriert er, den ganzen Montag über fährt er U-Bahn und sammelt ausgelesene Comics ein, die Pendler in der Gepäckablage zurückgelassen haben. Pro Taschenbuch zahlt der Secondhandladen 35 Yen, knapp 50 Pfennig, für 100 Yen liegen sie nachher auf dem Ramschtisch. Comics, die Lucky Sun nicht los wird, tauscht er mit seinen obdachlosen Freunden. Gegen sieben Uhr geht sein Tag zu Ende, wenn sich die Karawane der gediegenen Kostüme und blauen Krawatten mit Aktenkoffern und Handy durch die Bahnhofsgänge schleppt. Feierabend. Lucky Sun spannt die Regenschirme auf. Verächtlich hochgezogene Augenbrauen erträgt er nicht.