Ein japanischer Sozialdemokrat tritt ab

Nach der kurzen Amtszeit Premier Murayamas kehrt Japan zum „business as usual“ zurück: Die Liberaldemokraten haben die Regierung jetzt wieder fest im Griff  ■ Aus Tokio Georg Blume

„In den Neujahrstagen war das Wetter so schön. Da habe ich in den blauen Himmel geschaut und mir Gedanken über unsere historische Rolle gemacht“, sagte Tomiichi Murayama.

Nach vier Tagen Sonnenschein gab der 71jährige sozialdemokratische Regierungschef gestern seine Entscheidung bekannt: Er trat zurück. „Was zu tun war, habe ich auf meine Art und Weise vollendet“, sagte er.

Wenige Stunden später erklärte sich der liberaldemokratische Wirtschaftsminister Ryutaro Hashimoto bereit, den Posten zu übernehmen. Der scheidende Murayama sprach sich gegen vorgezogene Parlamentswahlen und für eine Fortführung der bestehenden Koalition aus. Er wird voraussichtlich am 11. Januar formal vor den Abgeordneten seinen Rücktritt bekanntgeben. Am gleichen Tag könnte auch sein Nachfolger ins Amt gewählt werden.

Hashimoto war bisher Stellvertreter des Premiers in der regierenden Drei-Parteien-Koalition und steht seit September an der Spitze der Liberaldemokratischen Partei. Diese ist stärkste Kraft in dem Parteienblock, dem neben den Sozialdemokraten auch die kleine Sakigake-Partei angehört.

Der Vorsitzende der oppositionellen Fortschrittspartei, Ichiro Ozawa, wandte sich gegen die Fortsetzung der Koalition und forderte baldige Neuwahlen. Im gleichen Sinne äußerte sich auch der Chef des japanischen Unternehmerverbandes, Shoichiro Toyoda, der allerdings erst die Verabschiedung des neuen Haushalts im Parlament im April unter Dach und Fach sehen wollte.

Er hoffe, daß sein Rücktritt „am Anfang eines neuen Jahres auch politisch einen neuen Anfang ermöglicht“, sagte Murayama, der im Juni 1994 Regierungschef geworden war, als erster Sozialdemokrat seit vier Jahrzehnten. Er war in der Bevölkerung nie sehr geliebt, aber für seine Aufrichtigkeit geachtet. Die buschigen Augenbrauen, das einfache Äußere und die abgehackte, stockende Sprache zeichneten ihn als Mann des Volkes aus. Er war Sohn einer kleinen Fischerstadt im tiefen Süden des Landes – jedenfalls kein eleganter Parteimanager von der Sorte, wie sie nun wieder Japan regieren wird.

Gestern benannte er die Erfolge seiner Amtszeit: Ein Gesetz für die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki, eine Kompensationsregelung für die Opfer der Quecksilberkatastrophe von Minamata und eine Entschädigung für Koreanerinnen, die im Zweiten Weltkrieg von der japanischen Armee systematisch vergewaltigt worden waren.

Außerdem sagte Murayama, er habe Japans Geschichtsverständnis klargemacht, als er sich am 50. Jahrestag der japanischen Kapitulation zur Kriegsschuld bekannte und um Vergebung bei den Opfern bat. Dabei schien gerade die Betonung dieses Satzes für Murayama die Gewißheit zu enthalten, daß es seine Nachfolger an derartigen Bekenntnissen in Zukunft fehlen lassen würden.

Zu Recht wurde die Murayama- Regierung oft als Übergangslösung bezeichnet. Nach der kurzen Reformphase, die auf die Wahlniederlage der bis dahin allein regierenden Liberaldemokraten im Jahr 1993 folgte, gelangte Murayama eher zufällig an die Spitze einer Koalition aus Sozial- und Liberaldemokraten.

Die Rückkehr eines Liberaldemokraten auf den Sitz des Regierungschefs führt zurück zum Normalfall. Den Sozialdemokraten fällt in Zukunft nur noch die Rolle des kleinen Koalitionspartners zu, der an Bedeutung zunehmend verliert.

Dagegen ist im vergangenen Jahr unter Führung des Machtstrategen Ichiro Ozawa eine neue, schlagkräftige Oppositionspartei entstanden, die für neokonservative Ziele wie die Deregulierung der Wirtschaft und Öffnung der Märkte eintritt. Zwischen ihr, der „Fortschrittspartei“, und den Liberaldemokraten spielen sich also die zukünftigen Machtkämpfe ab.

Wie sich die beiden großen konservativen Parteien dann noch voneinander unterscheiden, ist vielen Japanern bis heute nicht klar. Andererseits gibt es genügend Zankäpfel für eine öffentliche Debatte: So hat Murayama als letzte Amtshandlung einen milliardenschweren Rettungsplan für die seit Jahren bankrotten Wohnbaufinanzierungsgesellschaften verfügt, in dem mit öffentlichen Steuergelder erstmals den Finanzsündern der Spekulationsjahre geholfen werden soll.

Gegen diesen Plan läuft die Opposition nun Sturm und weiß dabei den großen Teil der Öffentlichkeit hinter sich. Indessen bleibt der Regierung keine andere Wahl: Ohne eine Konsolidierung im Finanzwesen, die derzeit nur mit öffentlichen Mitteln denkbar ist, entkommt Japan nicht der Rezession.

Solche Debatten mögen Ausländern in Japan oft detaillistisch und wenig volksnah erscheinen. Doch für viele Japaner, die für das Ende des Wirtschaftswunders und die anhaltende ökonomische Krise noch immer keine Erklärung finden, sind sie Ersatz für politische Visionen, die hierzulande ohnehin wenig Tradition haben.

So mag die Tokioter Börse das Urteil der meisten Japaner über den Wechsel an der Spitze des Landes vorweggenommen haben: Der Aktienmarkt zog ein wenig an, weil Murayamas designierter Nachfolger, der Liberaldemokrat Ryutaro Hashimoto, den Wirtschaftsinteressen gewogener erscheint als der alte Sozialdemokrat. Nicht einmal die Medien reagierten aufgeregt.

Dennoch markiert Murayamas Abschied mehr noch als einen Generationswechsel: Fraglich ist nun, ob in Japan überhaupt eine politische Kraft überlebt, die sich dem konservativen Lager entgegenstellt.