■ Ökolumne
: Flächendeckende Suppenküchen Von K.-P. Klingelschmitt

Die Chemiegiganten der Republik vermeldeten 1995 Rekordgewinne. RWE und Veba konnten ihre Gewinne um zweistellige Prozentraten steigern. Das Bruttoeinkomen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen wuchs um 8,8 Prozent, während das Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit nur um 3,08 Prozent anstieg. Die „Geldspeicher“ der Banken und Versicherungsgesellschaften platzen aus allen Schweißnähten. Und selbst die larmoyanten Bosse der Automobilindustrie erheben nach vollzogenen Massenentlassungen wieder das Haupt. Die Zulassungszahlen im Inland steigen, die Exportraten steigen – nur die Beschäftigtenzahlen sinken weiter. Gleichzeitig haben die Unternehmer die Spendierhosen angezogen: Rund eine Million Mark konnte etwa der Speiseeishersteller Theo Schöller für die Herzchirurgie an einem Klinikum in München abdrücken – und noch einmal eine halbe Million für einen Nierensteinzertrümmerer. Dafür gibt es dann schöne Spendenquittungen, mit denen die peinlich hohen Gewinne (vor Steuern) reduziert werden können.

Für Trendforscher und Kommunikationsberater wie etwa Matthias Horx oder Hartwin Möhrle, die heute in den Vorstandsetagen von Großkonzernen und Banken ein und aus gehen, ist dieses neue Mäzenatentum ein Exempel auch für Experimente mit dem Sozialstaat. Warum nicht das US-amerikanische Modell einführen: freie ArbeitnehmerInnen im freien Fall durch die Maschen eines nur noch sporadisch geknüpften sozialen Netzes, in dem dann nur noch die „tatsächlich Bedürftigen“ (Horx) hängenbleiben? Schließlich seien die Vereinigten Staaten heute (wieder) das leuchtende Vorbild für eine wachstumshungrige Wirtschaft auch auf dem Kontinent. Horx: „Japan ist out.“ Und „in“ sollen offenbar noch mehr „people on the street“ werden, die unter Brücken in Pappkartons hausen und denen RWE oder Hoechst einmal am Tag eine warme Mahlzeit spendiert.

Horx und Möhrle, die beiden Post-68er aus der Spontiszene, die einst für taz und Pflasterstrand schrieben, reden Klartext, während in den Vorstandsetagen der Konzerne von der Suche nach „Lösungen für die Standortprobleme in Deutschland“ gesprochen wird. PolitikerInnen werden von den Wirtschaftskapitänen mit Drohungen wie Produktionsverlagerung oder Kapitalflucht zum „Umbau des Sozialstaates“ animiert. Das verbale „Trommelfeuer“ aus den Chefetagen hat inzwischen selbst Sozialdemokraten, Gewerkschafter und auch Bündnisgrüne zermürbt: Immer neue Modelle vom Abbau sozialer Leistungen, die einmal als Errungenschaften der sozialen (!) Marktwirtschaft gefeiert wurden, kursieren.

Noch hat kein Unternehmen von volkswirtschaftlicher Bedeutung dem „Standort Deutschland“ den Rücken gekehrt. Zu groß sind die Standortvorteile: die marktstrategisch günstige europäische Mittellage, die ausgebauten Verkehrssysteme, die auf Interessenausgleich ausgerichtete, berechenbare Tarifpolitik, die an der ökonomischen Entwicklung orientierte Geldmarktpolitik der Bundesbank, eine hochqualifizierte und spezialisierte Arbeitnehmerschaft – und nicht zuletzt die stabile politische Lage.

Wenn Unternehmen im Ausland investieren, dann (fast ausschließlich) aus marktstrategischen Überlegungen. Und von denen würden sich kluge Konzernvorstände auch dann nicht abbringen lassen, wenn alle Sozialleistungen ersatzlos gestrichen würden. Deshalb ist die Debatte um den „Standort Deutschland“ eine verlogene Debatte mit nur einem Ziel: der Gewinnmaximierung.

Weniger Sozialleistungen bringen mehr Gewinne. Wenn die Sozialstaatsmillionen künftig den Konzernherren zugeschustert werden, können Rotes Kreuz und Arbeiter-Samariter-Bund nach der Logik von Horx und Co. schon einmal anfangen, flächendeckend Suppenküchen einzurichten. Die soziale Marktwirtschaft wäre dann passé – und die Prognose der Zweidrittelgesellschaft endgültig wahr geworden.