■ Bonn apart
: Das Bundestagstestbild rund um die Uhr für alle!

Eigentlich herrscht noch öde Winterpause unter der Käseglocke Bonn. Aber selbst nachts um drei passiert etwas, morgens um fünf immer noch, genauso zur Mittagszeit oder am Abend. Live wird aus dem Bundestag übertragen. Egal was läuft und zwar täglich, rund um die Uhr.

Unvorstellbar? Nein, spannende Realität. Denn Parlamentarier und Bonner Journaille genießen ein Privileg. Sie sind an die Ton- und Bildübertragungsleitung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung angeschlossen. Und die überträgt gnadenlos das Parlamentsgeschehen.

Zwar ist die Kamera stur auf Rednerpult und Präsidium gerichtet, aber präzise läßt sich beobachten, ob es gerade dunkel oder hell ist im Saal, sauber gemacht wird, vielleicht Einbrecher den Bundesadler klauen oder – gestern vormittag – Handwerker fleißig auf einer Hebebühne werkeln. Ein symbolisches Adlersignet rechts unten im Bild soll den Sender unverwechselbar machen, ansonsten dient das „Testbild Bundestag“ als Programmhinweistafel. Jedoch seit drei Wochen ist die Botschaft immer gleich: „Fernsehen des Deutschen Bundestags – 79. Sitzung, Mittwoch 17.01.96, 13.00 Uhr“. Ein fades Programm, dabei ließe sich doch bequem Abwechslung schaffen.

Eine Kamera vor den hell erleuchteten Fenstern des Bundeskanzleramts postiert, zur Arbeitskontrolle. Eine in der Bahnhofsunterführung von Bonn versteckt, nämlich dort wo sich mehr und mehr Obdachlose sammeln, um mehr Realität in die Amtsstuben zu übertragen. Oder eine plaziert vor dem Schaukasten der Landesvertretung des Saarlands beim Bund. Dort hängt zur Zeit noch die Parole „savoir vivre“ aus, in Gestalt von Weihnachtskochrezepten von Oskars Chefkoch Heinz-Peter Koop, der ein „Süppchen von Schwarzwurzeln und Knoblauch“ kredenzt plus „Roulade vom St. Petersfisch“.

Problemlos ausbaufähig also, dieses real existierende Bundestagsfernsehen, von dem ARD und ZDF seit 1993 träumen. Wer das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ernst nimmt, müßte ohnehin darauf klagen, daß der Bonner Kanal bundesweit durchgeschaltet wird, damit zensurfrei politische Meinungsbildung möglich wird – mit Vollkost statt Häppchenkultur. Derzeit warten bekanntlich ZDF und ARD auf grünes Licht, um ab 1997 mit einem eigenen „Parlaments- und Ereigniskanal“ auf Sender zu gehen. Ob aus dem Bundestag, Europaparlament, Knesset oder Petitionsausschuß: Wo es spannend wird, soll übertragen, Vorträge und Symposien belauscht werden und kluge Köpfe unter Regie von Fritz Pleitgen debattieren. Online soll Lieschen Müller ihre Meinung sagen, und per Extraschaltung werden dem Bürger wahlweise die Dokumente eingelesen, die an der Reihe sind. Vielleicht auch dann, wenn Bernd Schmidbauer wieder einmal BND-Papiere öffentlich macht.

Grundvoraussetzung für das überfällige Demokratieprogramm: 60 Millionen Mark jährlich. Bis das aber endlich beschlossen werden kann, warum nicht preisgünstiger ausdehnen, was in Bonn längst über den Bildschirm flimmert? Eine Postschaltung genügt, und die Geisterstunde im Bundestag wird bundesweites Vollprogramm. Bei Bedarf als Pausenfüller mit den Rezepten aus dem Saarland gewürzt. Und wenn auch das noch zu teuer ist, mit Bandenwerbung am Rednerpult zur Finanzierung. Spendable Lobbys soll es in Bonn schließlich geben. Holger Kulick