Herzzerreißende Klagelieder

■ Heute und morgen in der Glocke: Bartoks Konzert für Orchester und Klavierkonzert von Erwin Schulhoff / Seinerzeit von Hermann Hesse beargwöhnt: "Chaos statt Kosmos".

Als Béla Bartók 1943 in seinem Exilland Amerika einen Kompositionsauftrag für ein Orchesterwerk annahm, war er bitterarm und auf den Vorschuß des damaligen Dirigenten Sergej Koussevitzsky dringend angewiesen. Bartók hatte drei Jahre lang nichts mehr komponiert – er war 1940 emigriert. So kommt dem „Konzert für Orchester“, das im Zentrum des Philharmonischen Orchestern unter Leitung von Günther Neuhold steht, natürlich ein besonderer biographischer und damit auch ästhetischer Stellenwert zu. Diesen beurteilte zum Beispiel Hermann Hesse, als er 1955 – also zehn Jahre nach dem Tod des ungarischen Komponisten – das Konzert für Orchester im Radio hörte. „Statt Kosmos Chaos. statt Ordnung Wirrnis, statt Klarheit und Kontur zerflatternde Wogen klanglicher Sensationen, statt Aufbau und beherrschtem Ablauf Zufälligkeit der Proportionen und Verzicht auf Architektonik.“ Ein verwunderliches Urteil. Erstens war Hesse keiner, der Neue Musik nicht verstand, zweitens ist ja gerade das Spätwerk Bartóks geprägt von einer scheinbaren Einfachheit, auch Abgeklärtheit, die ihm nicht selten als eine Anpassung an den Publikumsgeschmack vorgeworfen wurde. Hesses Mißverständnis zeigt eher die aufregende Brisanz des Stückes: Das Konzert für Orchester, Bartóks letztes vollendetes Orchesterwerk, das künstlerische Vermächtnis eines Menschen, der mit der Besinnung auf die ungarische Bauernmusik im zwanzigsten Jahrhundert sozusagen die dritte Alternative ist neben den neuen harmonischen Fundamenten Arnold Schönbergs und den rhythmischen Ansätzen Igor Strawinskis. Bartók kämpfte um eine volkstümlich begründete und doch zeitgemäße Musik. Die entsprechenen Richtungskämpfe sind heute verblaßt.

„Fresko des Lebens“ hat György Kroó die fünf Sätze genannt, von denen die zentrale Elegia „das herzzerreißende Klagelied“ (Bartók) bedeutet und das mit gebündelter orchestraler Virtuosität gestaltete große Volkstanzfinale die Hoffnung auf die Versöhnung gesellschaftlicher und kultureller Widersprüche ausdrückt. Allein deshalb ist Bartóks Gesamtwerk von einer Aktualität ohnegleichen.

Das zweite Werk des Abends ist das 1923 entstandene Klavierkonzert von Erwin Schulhoff. Der 1894 in Prag geborene Komponist, der 1941 aus politischer Überzeugung die sowjetische Staatsbürgerschaft annahm, kam 1942 im Lager Wülzburg um. Er zählte wie Pavel Haas; Gideon Klein oder auch Victor Ullmann zu den Komponisten aus dem kulturellen Vorzeigelager der Nazis: Theresienstadt. Das Klavierkonzert ist noch in einer Zeit geschrieben, die von den späteren Tragödien nichts ahnen läßt und im Solopart auch an den berühmten Pianisten erinnert: „blendende Technik und beispielloses Gedächtnis“, schrieb die damalige Kritik; auch: „ein revolutionärer Komponist“. Das einsätzige Werk zeigt seine Begeisterung für Orchesterfarben, aber auch seine Faszination am Rhythmus. „Musik soll in erster Linie durch Rhythmus körperliches Wohlbehagen, ja sogar Ekstase erzeugen.“

Ute Schalz-Laurenze

Heute und morgen abend um 20 Uhr im großen Saal der Glocke