Ein Russe in Berlin

Gesichter der Großstadt: Der achtzigjährige Sergei Schilkin aus St. Petersburg wurde als Schnapsbrenner in Alt-Kaulsdorf zur Ost-West-Legende  ■ Von Gunnar Leue

In Hellersdorf gibt's viel Beton, wenig Kultur, keine Industrie. Und der größte Produktionsbetrieb ist auch noch eine Schnapsbude. Genauso hat sich's der Ostunkundige wohl schon immer vorgestellt. Doch so, wie der Plattenbezirk keineswegs eine neue Heimat für verarmte Suffköppe ist, ist jene Destillerie nicht irgendeine. Ihr Name – Schilkin – hat Klang in der Welt der Hochprozentigen. Der letzte russische Zar Nikolai war dem „Wässerchen“ so zugetan, daß er nicht erst wartete, bis der Tag ging, damit der Schilkin-Wodka kam. Schnapsbrenner Apollon Schilkin diente dem Monarchen in St. Petersburg deshalb als Hoflieferant.

Sergei Appollonowitsch Schilkin, Sohn des Apollon, erinnert sich noch gut an die Zeit in Rußland. Er ist heute achtzig Jahre alt und wegen seines Beitrags zur Trinkfreude des deutschen Volkes mittlerweile Ehrenpräsident der bundesdeutschen Brennergilde. Trug er doch wesentlich dazu bei, das russische Nationalgetränk unter die Deutschen zu bringen, und das unter teils abenteuerlichen Umständen.

Sergei Schilkin floh mit seinen Eltern 1921 aus St. Petersburg, nachdem Lenins Kommissare sämtliche Bourgeoise ins revolutionäre Visier genommen hatten. In Berlin blieben sie hängen, wo der Vater in Alt-Kaulsdorf (heute Hellersdorf) bald wieder eine Schnapsbrennerei gründete. Da es aber in Berlin über 200 Spirituosenhersteller gab, lief das Geschäft nicht annäherend so gut wie früher der Wodka durch die russischen Kehlen. Sergei war ohnehin mehr Technikfreak, studierte Maschinenbau und dozierte an der TH.

Nach Kriegsende und dem Tod des Vaters übernahm er den zerstörten Betrieb dann doch, aber erst 1948 ließ er seine Professorenkarriere endgültig sausen und gründete die Schilkin KG zum Zwecke des Reichwerdens. Der Jungunternehmer zeigte sich durchaus flexibel. Von der englischen Besatzungsmacht holte er sich die Erlaubnis, im Tiergarten Topinamburknollen zu ernten, um daraus einen Branntwein zu machen. Zu seinen Stammkunden gehörte wiederum die Sowjetarmee. Trotzdem paßte der Kleinkapitalist den am Sozialismus werkelnden DDR-Funktionären nicht recht: „Die wollten mich am liebsten in den Westen drängen, um meinen Betrieb selbst zu übernehmen.“ Weil Schilkin nicht mitspielte, kamen ihm die offiziellen Vertreter der herrschenden Arbeiterklasse 1958 mit einer angeblichen Steuerschuld. Notgedrungen mußte er 85 Prozent der Betriebsanteile an den Staat abgeben. Das Ende des Aufschwungs bedeutete das jedoch nicht, Schnaps ist ideologieresistent. Auch Schilkin selbst hatte sich inzwischen mit der Situation abgefunden.

1972 war er allerdings auch seine Restanteile los, infolge der zweiten Enteignungswelle in der DDR ging bald alles seinen hundertprozentig sozialistischen Gang. Die Genossen zeigten sich aber nicht undankbar und ehrten ihn für seine „Mitarbeit“ bei der Verstaatlichung seines Familienunternehmens mit dem Vaterländischen Verdienstorden. Viel wichtiger war Schilkin, daß er als Direktor im Betrieb bleiben durfte, was er heute als sein „größtes Glück“ bezeichnet. Weil die SED-Wirtschaftsplaner allein der Betriebsgewinn interessierte, ließ man Schilkin relativ frei gewähren. Das sicherte die Versorgung der Arbeiterklasse mit Braunem, während der edle Serschin-Wodka vorwiegend für den Klassenfeind im Westen bestimmt war. In der DDR belieferte man nur die Intershops mit Westgeldpflicht und gelegentlich den sozialistischen Hof, zum Beispiel das SED-Zentralkomitee. Einen so tüchtigen Direktor (der mittlerweile viertgrößten DDR- Schnapsbrennerei) wollten die Genossen natürlich in ihren Reihen, genauso wie die Blockflöten. Doch Schilkin trickste sie schwejkmäßig gegeneinander aus. „Den Blockflöten sagte ich, wenn ich schon in eine Partei ginge, dann gleich in die richtige. Den SED-Leuten erzählte ich aber, als Unternehmer komme für mich nur eine Blockpartei in Frage.“ Am meisten in seiner Ehre verletzt sah er sich jedoch, als die Planwirtschaftler zwischenzeitlich die Herstellung von Limonade bei ihm erwogen. Hat die doch nun wirklich nichts mit dem Weltkulturerbe zu tun, zu dem Schilkin seinen Wodka rechnet: „Man muß ihn aber kultiviert trinken und darf sich nicht einfach zuschütten. In der DDR haben leider viele auch aus Frust gesoffen.“

1980 ging der Aktivist der sozialistischen Arbeit in Rente – bis die Wende kam und Sergei Schilkin von seinen ehemaligen Verstaatlichern zur Reprivatisierung des VEB gedrängt wurde. Er ließ sich darauf ein, weil die Treuhand mit 85 Prozent einstieg. Doch mit dem Crash der DDR-Handelsorganisation kam erst mal die Absatzkrise, aus der ihn ausgerechnet ein früherer Handelspartner aus Westdeutschland herausführte. Seit 1993 macht das mittlerweile vollständig rückübertragene und von Schilkins Schwiegersohn geführte Unternehmen Gewinn. Doch das Lebenswerk des Seniorchefs war damit keinswegs abgeschlossen. Erst noch besiegelte er in seiner Heimatstadt St. Petersburg ein Joint-venture. Eine Weinfabrik. Sein Zaren-Wodka Serschin kommt weiter aus Deutschland.