■ Normalzeit
: Witzkurse für Arm und Reich

Ohne die Möglichkeit, den immer engmaschigeren Systemen zu entkommen, bleibe den Individuen nur die Chance, sie immer wieder punktuell zu überlisten, auszutricksen und in den elektronisierten und informatisierten Großstädten auf „die Kunst“ der früheren Jäger und Hirten zurückzugreifen – so der Alltagsforscher Michel de Certeau. Diese „ortlosen Taktiken, Finten und Listen“ nähmen nie die Form eines Diskurses ein, ihre intellektuelle Synthese liege in der Entscheidung selber, das heißt im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit „ergriffen“ wird.

Es ist klar, daß sich damit der staats- und politikfixierte Ostler schwerer tut als, sagen wir, „der Rumäne“. Aber er kommt langsam in Gang: Schon gibt es eine Reihe von ABM-Kursen (in einer ehemaligen Kombinatshalle in Köpenick), wo man genau solche „Fertigkeiten“ vertieft: Da wird z.B. den „schwer vermittelbaren Kursusteilnehmern“ das „Lottospiel“ erklärt, „Behördenformulare“ ausgefüllt und die entsprechenden „Verhandlungen“ geführt, aber auch geübt, wie man „Briefmarken“ und „Presseausweise“ nachmacht oder eine „Bahncard“ überträgt. Gemeinsam formuliert man „wasserdichte Reklamationen“ – bei Dosengemüse und Sockenherstellern etwa – oder sucht nach Wegen, um das Konto und den „Kanarienvogel“, den gelben Honda, bei Pfändungen in Sicherheit zu bringen. Diese Art Intelligenz, die von den nach der Wende zunächst zum Vorbestraften, zum Alkoholiker oder zum verlodderten langzeitarbeitslosen ABM- Abgerutschten angeeignet werden soll, reicht – laut Certeau – bis auf die „uralten Finten und Verstellungskünste“ der Pflanzen und Fische zurück: „Die Griechen stellten sie in der Gestalt der ,metis‘ dar.“

Heute beschränkt sie sich nicht nur auf die Zukurzgekommenen. In Seminaren, die z.B. Banker, Vermögensverwalter und Justitiare (für 1.900 DM) auf Durchsuchungsaktionen von Fahndungsbehörden vorbereiten, bieten die Referenten, im noblen Münchner City Hilton etwa, mittlerweile ähnliches an wie die Kreuzberger Autonomen in ihren kostenlosen „Flugis“: Verhaltensvorschriften bei Bullenüberfällen und Festnahmen – „Zuallererst gilt es: Schnauze halten!“ Im Hilton- Deutsch heißt das: „Auf Fragen nach Steuervermeidungsstrategien müssen Sie mit steinernem Gesicht reagieren!“ Die goldene Terroristen-Regel „Nie irgendwelche Unterlagen zu Hause abheften!“ übersetzt der Leiter der Steuerabteilung des Bundesverbandes der deutschen Volks- und Raiffeisenbanken so: „Das ist ein gefundenes Fressen für die Steuerfahndung, und dann sind Sie dran!“ Wichtig ist auch – hier wie dort – die Kenntnis des Gegners: „In Schwaben kommen die Fahnder um halb acht, die Rheinländer erst um neun!“ Während die radikalen Gruppen an „immer besseren Vorwarnsystemen“ arbeiten, wird den Führungskräften der Wirtschaft eingeschärft, daß „den Pförtnern eine Schlüsselrolle“ zukommt. Wenn die Fahnder sie ausgetrickst haben, dann spricht zwar der Bankenvertreter Hamacher von „Inquisitionsverfahren“ statt von „Bullenfolter“, aber der Referent aus dem Lager des Gegners – ein Sachgebietsleiter im Bereich Großbetriebsprüfung des Finanzamts Frankfurt/ Main – versteht ihn auch so: „Nur die Fronten nicht verhärten“, rät er, denn „dann kann es nach dem ganzen Ritual auch zur Einigung auf der Toilette kommen“. Auch im Hilton setzt man also auf „ortlose Taktiken und Finten“.

Letztere hatte bereits Clausewitz mit dem Witz verglichen: „Wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen.“ Helmut Höge

wird fortgesetzt