Nur jede hundertste Straße ist eine Frau

■ Von 3.450 Personen, nach denen in Berlin eine Straße benannt ist, sind nur 89 Frauen. Erstmals bietet nun die Edition Luisenstadt mit einem vierbändigen Buch den Überblick über die 9.050 Straßen de

Fünfeinviertel Jahre nach der Stadtvereinigung hat man die Übersicht über die Berliner Straßen, Plätze, Brücken und Parkanlagen verloren. Selbst die Anzahl der Straßen ist umstritten; das Statistische Bundesamt kommt jedenfalls auf eine andere Zahl als die Berliner Behörden. Darüber hinaus müssen die Berliner Straßennamen nicht nur noch immer als politischer Kampfplatz herhalten, sondern sind auch ein Feld des „hundertfachen Gesetzesbruchs“.

Laut Berliner Straßennamengesetz nämlich darf es in der Stadt keine Straße zweimal geben. Aber schon die „Berliner Straße“ taucht achtmal auf. Neunmal gibt es die Charlotten-, Goethe- und Bahnhofstraße. Und gar zehnmal findet man die Lindenstraße, wenngleich auch ihre Kreuzberger Variante bald nach Axel Cäsar Springer benannt sein soll. Auf Chaos und Unübersichtlichkeit stößt man zu guter Letzt noch immer bei der Straßennamenorthographie wie zum Beispiel beim „Senefelder Platz“, der nicht nach einem ominösen Ort namens Senefeld bezeichnet ist, sondern nach dem Erfinder der Lithographie und demnach Senefelderplatz heißen müßte.

Grund genug für den Luisenstädtischen Bildungsverein, die geneigte Öffentlichkeit mit dem Ergebnis einer mehrjährigen Recherche wieder auf sichere Pfade zurückzuführen. In einer vierbändigen Ausgabe hat der Verein nun ein Straßenlexikon auf den Markt gebracht, das im Vergleich zu den zahlreichen anderen Büchern zum selben Thema wohl als Standardwerk bezeichnet werden muß.

Daß die Berliner Straßennamen nicht erst in jüngster Zeit zum Spiegel politischer Interessen und Ansprüche wurde, zeigt allein ein Blick auf den Bestand: 9.050 Straßen und Plätze gibt es in der Stadt, über 3.450 davon sind nach Personen des öffentlichen Lebens benannt. Nach männlichen Personen allerdings: 3.019mal glänzen die Herren der Schöpfung an den Straßenecken, während die Frauen mit 293 Nennungen im Bewußtsein der namensgebenden Stadtväter fast überhaupt nicht vorkommen. Deutlicher wird das noch, wenn man die „unpersönlichen“ Benennungen etwa für Figuren der Märchen- und Sagenwelt oder der Mythologie abzieht. Dann sind es gerade noch einmal 89 Frauen, deren Name eine Straße schmücken darf, darunter 23 Widerstandskämpferinnen, zwei Kommunalpolitikerinnen und elf Unternehmerinnen.

Die größte Berufsgruppe, nach denen die Berliner Straßen benannt sind, sind Architekten, Künstler und Schriftsteller (721). Ihnen folgen Politiker (318), Wissenschaftler (283) und Kommunalpolitiker (266). An fünfter Stelle stehen mit 247 Bezeichnungen die Militärs. Die nationalistische Tradition im Straßenbild ist mit 196 Namen im Zusammenhang mit Kriegen, Schlachten und Kolonialismus ungebrochen.

Die Benennung von Straßen vor dem Hintergrund politischer Machtinteressen wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblich. Noch im 18. Jahrhundert waren die meisten Straßen nach geographischen Orten oder den in der Straße ausgeübten Gewerben benannt. Noch heute sind 5.900 Straßen nicht nach Personen benannt. Davon machen die Städte und Orte mit 2190 die größte Gruppe aus, gefolgt von den Bauwerken (434), der Pflanzen- (392) und der Tierwelt (245). Doch auch die Ortsbezeichnung von Straßen ist, wie man mit der Umbenennung der Leninallee in Landsberger Allee erleben mußte, nicht frei von politischem Kalkül.

Das vierbändige Straßenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins, der auch die Berlinische Monatsschrift herausgibt, ist der Abschluß der Reihe „Wegweiser zu den Bezirken Berlins“, mit der der von ABM-Mitteln geförderte Verein 1992 begonnen hatte. Langatmige Essays sucht man darin ebensowenig wie politische Richtungsbestimmungen. Auf einen Vorschlag freilich wollte Herausgeber Hans-Jürgen Mende nicht verzichten. Angesichts von 487 Straßen, die in Berlin noch keinen Namen haben, sondern schlicht mit der Kennung 1, 2, 3 oder 99 versehen sind, sollten die Berlinerinnen im Vergleich zu den Berlinern endlich zu ihrem Recht kommen. Uwe Rada

„Lexikon der aktuellen Namen Berliner Straßen und Plätze“. Edition Luisenstadt, 190 DM