Mit Stangen erschlagen

Türkische Soldaten gingen brutal gegen meuternde Gefangene vor. Die Revolte weitet sich aus.  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Das sind keine Gefängnisse, das sind Konzentrationslager“, kommentiert der Kolumnist Koray Düzgören in der liberalen Tageszeitung Yeni Yüzyil. Nach den drei Toten bei der Niederschlagung der Gefangenenrevolte in Ümraniye, dem Sondergefängnis für politische Gefangene in Istanbul, hat sich der Konflikt in den türkischen Gefängnissen ausgeweitet. In den Gefängnissen Bayrampașa in Istanbul und Buca nahe der ägäischen Stadt Izmir hielten gestern Häftlinge immer noch Beamte als Geiseln. In Bayrampașa befinden sich elf Wächter und der Leiter des Teilbereiches für politische Gefangene in der Hand der Häftlinge, die Barrikaden errichtet haben. In Buca sind 17 Beamte von den Häftlingen als Geiseln genommen worden.

Politische Gefangene in anderen Gefängnissen der Türkei — nach amtlichen Angaben befinden sich 8.600 politische Häftlinge unter den insgesamt 51.000 Strafgefangenen — sind in den Hungerstreik getreten. Neben der Verbesserung der Haftbedingungen ist ihre Hauptforderung, daß diejenigen, die für den Tod der Gefangenen in Ümraniye verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden.

Mittlerweile sind erschreckende Einzelheiten über den Zustand im Gefängnis Ümraniye und den Tod der drei Gefangenen bekanntgeworden. Die Gefangenen wurden offensichtlich mit Eisenstangen zu Tode geprügelt, als das Militär in die Zellen eindrang. Nach Autopsieberichten weisen die Köpfe der Toten bis zu zwölf Zentimeter lange Wunden auf. Auch ihre Hände sind verletzt. Offenbar versuchten die zu Tode Geprügelten vergeblich, ihre Köpfe mit den Händen zu schützen. Rechtsanwalt Metin Narin, der bei der Autopsie zugegen war, berichtet, daß das Hirn seines Mandaten offenlag und selbst Familienangehörige ihn nicht erkennen konnten. Nur die Narbe einer früheren Operation führte zur Identifizierung.

Der oberste Leiter der türkischen Strafanstalten, Zeki Güngör, der mittlerweile zurückgetreten ist, gestand nach den Toten in Ümraniye: „Wir haben den Auftrag für die Operation in den Gefängnissen erteilt. Die Soldaten haben aber das Maß überschritten.“ Vor seinem Rücktritt versuchte Güngör am Sonntag mit den Häftlingen in Bayrampașa — einem der größten Gefängnisse in der Türkei — zu verhandeln. „Wir sind für Weiterführung des Dialoges. Führt man sich die Kapazität des Gefängnisses Bayrampașa vor Augen, ist es unvermeidlich, daß eine Intervention zu großem Blutvergießen führen wird.“ Doch der Staat hat trotz der Toten den Konflikt zugespitzt. Mehrere hundert Familienangehörige, die sich vergangenen Freitag friedlich vor dem Justizgebäude versammelt hatten, wurden brutal von der Polizei zusammengeprügelt. Zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen. Fast alle türkischen Fernsehsender zeigten Bilder, wie alte Frauen beschimpft, an den Haaren gezogen und schließlich abgeführt wurden.

Nachdem zahlreiche Häftlinge vergangene Woche schwer verletzt in die staatliche Klinik Haydarpașa Numune eingeliefert wurden — mehrere schweben noch in Lebensgefahr — klagen Ärzte über die Behinderung ihrer Arbeit durch die Polizei, die das Krankenhaus regelrecht belagert. „Das Krankenhaus ähnelt einer Kaserne im Kriegszustand. Da schlagen Polizisten auf Verletzte auf dem Krankenbett, die sich in Behandlung befinden, ein. Während meines ganzen Berufslebens war ich noch nie derart mit den Nerven runter“, berichtete ein Arzt gegenüber Yeni Yüzyil.

Das noch amtierende Kabinett hält sich vor Bildung der neuen Regierung mit Stellungnahmen zurück. Der für „Menschenrechtsfragen“ zuständige sozialdemokratische Minister, Adnan Ekmen, bedauerte, daß er noch keine „Delegation“ zwecks Inspektion der Gefängnisse gebildet habe. „Doch selbst wenn wir eine Delegation bilden, kommen wir doch überhaupt nicht rein“, sagte der Minister, der feststellte, daß „die Gefängnisse weiterhin eine offene Wunde sind“. Auch das zuständige Justizministerium, das nicht die Verantwortung für weitere Tote auf sich laden will und deshalb zögert, den Auftrag zu erteilen, die Zellen zu stürmen, hält sich bedeckt. – Eine Verbesserung der Haftbedingungen in den türkischen Gefängnissen ist nicht in Sicht. Häufig befinden sich in einer Zelle mehrere hundert Gefangene. Der Umstand, daß beim Strafvollzug Dutzende, wenn nicht Hunderte Häftlinge der gleichen politischen Organisation in einer Zelle eingesperrt sind, bringt es mit sich, daß die Organisationen ein Eigenleben innerhalb der Gefängnismauern entwickeln. Ohne daß die Gefängnisverwaltung einschreitet, sind Morde an angeblichen „Verrätern“ gang und gebe.

Bei politischen Gefangenen, die vom Staat als „Terroristen“ angesehen werden, gelten Sonderbedingungen. Besuche von Rechtsanwälten und Familienangehörigen werden behindert. Immer wieder dringen Soldaten in die Zellen ein und verwüsten sie. Das ist häufig mit Gewaltakten gegen Gefangene verbunden.

„Dies ist keine Gefängnisrevolte, sondern Widerstand“, sagt der blinde Rechtsanwalt Esber Yagmurdereli, der als „Gesinnungstäter“ 14 Jahre in türkischen Gefängnissen, zuletzt im verrufenen Ümraniye, seine Haftzeit absaß. „Menschen, die sich nicht wehren können und deren Leib und Leben unter der Obhut des Staates sind, werden angegriffen. Eine unabhängige Kommission muß die Vorfälle klären. Das Personal muß ausgewechselt werden. Man kann schließlich nicht mit den Mördern zusammenleben.“