Die „Sphinx“: Das Ende eines langen Abschieds

■ Der Tod war lange Mitterrands Thema: Sein erster Weg als Präsident führte zu den toten Männern Frankreichs, erst kürzlich erschien sein Buch zum Sterben

Sein erster Weg als französischer Präsident führte ihn zu den großen toten Männern des Landes. Ganz allein, mit einer roten Rose in der Hand, schritt François Mitterrand im Mai 1981 in das Pantheon, wo neben Rousseau und Voltaire auch die Helden jenes anderen Frankreichs ruhen, die für den Sozialismus gekämpft haben. Erst danach begab er sich in den Elysee-Palast, wo er 14 Jahre lang residieren sollte.

Der Tod, die Geschichte, die Unvergänglichkeit – dieses Thema hat Mitterrand nie losgelassen. Er hat es mit Philosophen, mit Schriftstellern, mit Geistlichen und zahlreichen politischen Freunden erörtert. Öffentlich und privat. Vor dem Ausbruch seiner letztlich tödlichen Krankheit. Und danach.

Bereits bei seinem Amtsantritt 1981 verfügte der Nachfolger von Georges Pompidou, von dessen schwerer Krankheit die Franzosen erst lange nach dem amerikanischen Geheimdienst erfahren hatten, daß regelmäßig Bulletins über den Gesundheitszustand des Präsidenten veröffentlicht werden sollten. 1992, nach seiner ersten Krebsoperation, sprach Mitterrand von einer „Schlacht gegen sich selbst“, von der er auch nach seiner zweiten Operation noch sprach.

Seit 1992 ist Mitterrand die Aasgeier nicht mehr losgeworden. In immer kürzeren Abständen kabelten sie Meldungen über seinen unmittelbar bevorstehenden Tod in alle Welt. Ein Schwächeanfall auf einer Südostasienreise, eine starke Blässe in Berlin, ein Schwanken auf dem EU-Gipfel in Birmingham reichten jeweils aus, um ihn totzusagen. Doch Mitterrand widerlegte alle. Der französische Präsident war abgemagert, hatte eine wächserne, transparente Gesichtsfarbe bekommen und ging beschwerlich – aber intelektuell brillierte er bis zum Schluß. Einen vorzeitigen Rücktritt lehnte er ab. Erst wenn sein Leiden dazu führe, daß er sich nur noch auf sich selbst beziehen könne, werde er gehen.

Im Herbst 1994 gab Mitterand ein Interview aus dem Elysee-Palast, das Fernsehgeschichte machen sollte. Anlaß waren die Enthüllungen des Journalisten Pierre Péan über Mitterrands Verwicklungen in das Kollaborateursregime von Vichy. Und die Gerüchte über eine rapide Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Präsidenten. „Ja“, gab Mitterrand unumwunden zu, er sei von rechts gekommen und nach links gegangen – „im Gegensatz zu so vielen anderen Politikern, die den umgekehrten Weg gemacht haben“. Und: Ja, er ringe um sein Leben. Er kämpfe. Und zwar mit der Haltung desjenigen, der gewinnen wolle. In den folgenden Monaten rückte der Abschied in das Zentrum des Lebens des scheidenden Präsidenten. Mitterrand ordnete seine Verhältnisse. Er zeigte sich erstmals öffentlich mit seiner Tochter Mazarine. „Ich habe eine uneheliche Tochter. Na und?“ Er besuchte mehrfach den hochbetagten französischen Philosophen Guitton, um mit ihm über ein Leben nach dem Tod zu diskutieren. Und er veröffentlichte zusammen mit dem Nobelpreisträger Wiesel Zwiegespräche, in denen ein ganzes Kapitel dem Tod gewidmet ist.

„Der Tod ist eine Obsession von Mitterrand“, sagt der einstige Premierminister Fabius. Mitterrand glaubte fest an ein Etwas nach dem Tod. Nicht jedoch an ein Leben danach. Man könne keine Angst vor dem Tod haben, wenn man nicht an Gott glaube, schrieb er im Vorwort zu einem erst vor wenigen Wochen erschienenen Buch über das Sterben. Die Frage, ob er an die Existenz von Gott glaube, beantwortete Mitterrand stets mit „Nein“. Gewöhnlich präzisierte der in einer katholischen Familie in Südwestfrankreich Aufgewachsene anschließend, daß er es bedauere, den einfachen Glauben an die Schöpung und den Schöpfer verloren zu haben, von dem seine Kindheit getränkt gewesen sei.

Die Macht halte ihn am Leben, sagten Mitterrand-Kritiker und Freunde in den letzten Monaten seiner Amtszeit. Doch auch nach seinem Abtritt im Mai 1995 blieb der Totgesagte stärker als erwartet. Er schrieb täglich an seinen Memoiren. Bereiste Frankreich. Verbrachte die Weihnachtstage mit Familie in Ägypten. Ging mit Journalisten auf seinem Landgut spazieren.

Gleichzeitig inszenierte er weiterhin seinen Tod. In seiner 14jährigen Amtszeit hatte er die französische Hauptstadt mit zahlreichen Prunkbauten überzogen, die seinen Namen an die Geschichte weitergeben werden – von der Glaspyramide vor dem Louvre über die Arche de la Defense bis hin zu der weltgrößten Grande Bibliotheque. In den Monaten nach seinem Amtsende erregte er noch einmal Aufsehen. Auf halber Strecke zwischen seinem Geburtsort und dem seiner Gattin Daniele erwarb Mitterrand einen Berghang in Zentralfrankreich, auf dem sich das Ehepaar angeblich bestatten lassen wollte. Zu der heftigen Kritik, die der Immobilienkauf auslöste, hat er sich nie geäußert. Erst jetzt erfuhren die Franzosen, daß die „Sphinx“, wie sie ihren rätselhaften Ex-Präsidenten oft genannt haben, nun doch in Jarnach beigesetzt wird – der Grabstätte seiner Eltern. Dorothea Hahn