Eine zufällig inszenierte Andacht

Zur letzten Lesung für Heiner Müller kamen Schüler, die nur seinen Namen kennen, und Menschen, die mit seinen Werken aufgewachsen sind  ■ Von Barbara Bollwahn

Fast lautlos schleichen sich die Besucher der letzten Lesung für Heiner Müller im Berliner Ensemble (BE) die Treppe hinauf. „Wir bitten um absolute Ruhe“, wird auf Schildern gemahnt. Das Knarren der Treppenstufen und die Flüstertöne der Besucher vermischen sich zu einer wie zufällig inszenierten Andacht, die hin und wieder von Wortfetzen durchbrochen wird, die von der Probebühne hinausdringen. Die Bitte um Ruhe gilt weniger der gestrigen achten und letzten öffentlichen Lesung für den Dramatiker als der Probe für sein Stück „Der Bau“, das am 3. Februar Premiere hat.

„Das ist ja der Horror“, sagt ein Mann, als er den überfüllten Saal sieht, in dem sich etwa dreihundert Zuhörer drängen. Andere versuchen angestrengt, von der Tür aus zu lauschen oder raunen sich zu, daß es zwischen dem Tod von Sartre und Müller „gewisse Parallelen“ gebe und daß zu der Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof am 16. Januar „bestimmt 10.000 Menschen“ kommen werden. Wieder andere haben sich resigniert zurückgezogen. Wie die Schüler des Deutsch-Leistungskurses eines Spandauer Gymnasiums. „Es ist zu voll, man versteht nichts und kann sich nicht setzen“, klagt eine 21jährige Schülerin, die Heiner Müller nur dem Namen nach kennt.

Der Dramatiker, der am 30. Dezember starb und gestern 67 Jahre alt geworden wäre, stehe erst im nächsten Semester auf dem Lehrplan. „Und wir müssen bis 13.30 Uhr bleiben“, stöhnt sie. Eine Schülerin, die es sich mit drei anderen auf dem Boden im Flur bequem gemacht hat und Karten spielt, ist enttäuscht. „Ich hab mich drauf gefreut“, sagt sie. „Aber wahrscheinlich ist es so voll, weil es nichts kostet.“ „Wir mußten hierherkommen“, sagt ein anderer und knallt eine Karte auf den Boden. „Das ist pietätlos“, weist eine Mitarbeiterin des BE die jungen Müller-Banausen zurecht.

Im Foyer eine Treppe tiefer laufen auf zwei Fernsehgeräten Aufzeichnungen von Gesprächen mit Müller, bei denen das Whiskyglas in der einen Hand und die Zigarre in der anderen nie fehlen. Ununterbrochen strömen Menschen herein, um bei der letzten Lesung dabeizusein. Eine 50jährige Frau plaziert eine langstielige rote Rose zwischen anderen Blumen und vier blütenweißen Federkielen, die auf einem Tisch neben einem Stapel Kondolenzlisten und Beileidstelegrammen liegen. Von Quito bis Rußland, von der International Brecht Society bis zur PDS reicht die Trauer über Müllers Tod. „Er war ein ganz großer Mann, der seiner Zeit lange voraus war“, sagt die Rosenbringerin. Auch wenn vieles bei ihm „widersprüchlich war“, sei es „einfach traurig, daß er so früh sterben mußte“. Natürlich gehe alles weiter, „laut und brüllend“, sagt sie leise. „Doch für einige Leute gibt es keinen Ersatz.“ Für eine andere Frau, die mit Müllers Werken aufgewachsen ist, war er „ein Querdenker, einer, zu dem man irgendwo eine Beziehung hatte“.

Ein 60jähriger Mann, der gestern zum zweiten Mal ins BE gekommen ist, „um etwas von ihm zu hören“, befürchtet, daß es ein Problem sein wird, „die Lücke Müller zu schließen“. Die Rauch- und Trinklaster des Dramatiker sind für ihn ein Teil der Person Müller. „Sonst wäre er auf anderen Gebieten kastriert gewesen“, ist er überzeugt. „Sie kennen das ja von Harald Juhnke.“