■ Von einem, der auszog, in eine WG einzuziehen
: Übungsleiter in Plastikfolie

Ein wahrhaft entwürdigendes Schauspiel entwand die Gesetzmäßigkeit von Zufall und so heute dem Nichts. Der Hamburger Hauptbahnhof, nimmermüder Intendant grotesker Dahinsiechdramen, wuchtete einen leicht desorientierten Menschen auf die so unerfaßbar weite Bühne des Überlebens. Solch einer, der sein zerknittertes Mäppchen auch hätte in der WG-Küche liegenlassen können – „Student“ hätten wir ihn allemal getauft, ja gepiesakt. Ein schönes Wort, eine unschöne Assoziation. Nun zum Studenten. Nicht so sehr wie seine nicht in der WG-Küche vergessene „Aktenmappe“ ließ ihn seine Wollmütze vor meinen ungnädigen Augen, die sich als zeitungsständerinspizierende Wissensheischer super verkleidet hatte, blöde dastehen; doch mußte all das albinoesk verblassen gegen ein durchaus unmodernes Accessoire an des mutmaßlichen, ach was: durch seinen treudoofen Phänotyp alle anderen Lebensum- und -zustände ausschließenden STUDENTEN-Armscharnier. Da, wo der Körper endet, wenn der Arm ab ist, weil ein Unfall passiert ist oder ein Western gedreht wurde, da also, wo das Vergnügen Mensch endet, was man Torso nennt, vor allem dann, wenn der Rest, die sogenannten Gliedmaßen fehlen. Bei besagtem – und im Folgenden: beklagtem – Studenten fehlte aber auf den ersten Blick außer ein wenig Hirnmasse nicht allzuviel. Das Gegenteil war der tiefe Fall: In seinem Arm hielt er eine offenbar soeben erstandene Aluminiumleiter. Diese punktgenaue Spezifizierung dessen, was man auch als bloße „Leiter“ korrekt, aber unvollständig hätte beschreiben können, ward aus zweierlei Gründen möglich. Zum einen wurden alle mir in Katalogen bisher feilgebotenen Leitern als „Aluleitern“ charakterisiert, somit spricht die Wahrscheinlichkeit sich deutlich gegen eine andersartige chemische Zusammensetzung aus. Zum zweiten erschloß sich die Taufrische dieses stufenlosen Desasters (denn entgegen fälschlichem umgangsprachlichen Gebrauchs heißt es bei Leitern ja „Sprossen“) dem mitleidigen Betrachter durch die luftdichte Verpackung mit schützend festgezurrter Plastikfolie, wie man es von Äpfeln her kennt, die man nicht zuletzt deshalb niemals kauft. Doch das Ausmaß der Leiter bereitete dem (Definitionsverengung) Lehramtsanwärter einige Probleme. Die Leiter war sein Schicksal. Grausig: die Leiter als Wille und Vorstellung eines, der ausgezogen war, in eine WG einzuziehen. „So geht's nicht weiter“, muß nun sein Gedanke gewesen sein. Wie sonst ist zu erklären, daß er urplötzlich das Alugestänge abstellte und, eine Art laschen Hitlergruß vollführend, seine zum Jäger 90 geformte Hand in feindlicher Gesinnung auf die Leiterumhüllung stieß? Man kennt das vom sonntäglichen Öffnen selbsthergestellten Gelees: So ein Kunst(stoff)griff läßt wegen sich verschiebender Luftmassen, einem Überschuß an Luft auf der einen, einem Mangel auf der anderen Seite, mit einem knallenden Laut die Idylle (sogar die fragwürdige eines Hauptbahnhofes) entzweireißen. Doch folgt auf diese Erschütterung stets ein im Kleinen erleichtertes Leben: Gelee wird so eßbar, eine Leiter, nun ja, lieber Student, die wird meinetwegen „quasi greifbar“. Hat er gemacht, hat er gegriffen, hat sie geschultert, gar kein Problem. Ästhetisch argumentierend war die Einswerdung mit der Leiter zwar eine Niederlage, aber allenthalben ein Sieg gegen „graue Theorie“. Praktisch war's gewiß. Ein wenig kriegsversehrt zog er das Bein nach, an dessen dazugehöriger Schulter die Leiter nun festgemauert schien, doch wer Hitler grüßt, darf auch vom Krieg versehrt sein. So gesehen: gerecht. So gesehen: im Hauptbahnhof. Benjamin v. Stuckrad-Barre