War es Fahrlässigkeit oder politisches Kalkül, was die erneute Geiselnahme durch tschetschenische Rebellen ermöglichte? Den Tschetschenen wird die Schreckenstat nicht helfen, doch die Extremisten beider Seiten lassen den Krieg weiter eskali

War es Fahrlässigkeit oder politisches Kalkül, was die erneute Geiselnahme durch tschetschenische Rebellen ermöglichte? Den Tschetschenen wird die Schreckenstat nicht helfen, doch die Extremisten beider Seiten lassen den Krieg weiter eskalieren

Sie brauchen Krieg wie Luft zum Atmen

Mit Bestürzung reagierten die Moskauer gestern auf die Nachricht der erneuten Geiselnahme durch die tschetschenischen Rebellen: Daß sich eine solche Schreckenstat wiederholen könnte, hätte niemand geglaubt. Bei der ersten Geiselnahme im Juni 1995 im russischen Budjonnowsk konnten die Rebellen trotz der Gewaltaktion noch mit einem gewissen Verständnis der Weltgesellschaft rechnen. Es tobte ein Krieg, der das kleine nordkaukasische Volk auszulöschen drohte. Durch die Geiselnahme waren die Russen gezwungen, einzulenken und Waffenstillstandsverhandlungen aufzunehmen. Unterm Strich floß weniger Blut, wenn es überhaupt statthaft ist, eine so gräßliche Rechnung aufzumachen.

Die Wiederholung einer solchen Schreckenstat kann der Sache des von den Russen seit fast zwei Jahrhunderten drangsalierten Volkes nur schaden. Zumal die Kriegsmaschinerie des Kreml nicht mehr in voller Bewegung ist. Alles deutet darauf hin, daß das Lager der Rebellen um den verjagten Präsidenten Dschochar Dudajew endgültig gespalten ist. Schon im Dezember, als Freischärler Gudermes, die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, in einem Handstreich besetzten, reagierte Dudajews Oberkommandierender Aslan Maschchadow mit Bestürzung. Mehrfach forderte er nachdrücklich die Freischärler auf, die Blockade der russischen Militärkommandantur aufzugeben und die Stadt zu verlassen. Maschchadow führte auch für die tschetschenische Seite die Waffenstillstandsgespräche im Juli. In Gudermes appellierte er an die russische Armeeführung, durch eine gemeinsame Kommission das Blutvergießen zu beenden. Die Militärs erteilten ihm eine arrogante Abfuhr. Ein nicht unwesentlicher Teil der verantwortlichen Kommandeure scheint eine gewaltsame Lösung zu favorisieren. Genauso wie Rußlands Verteidigungsminister Gratschow, der im Dezember öffentlich vom „Endschlag“ fabulierte. Auf beiden Seiten gewinnen Extremisten die Oberhand.

In Kisljar nennen die Quellen etwa vierhundert Rebellen, die an der Geiselnahme beteiligt sind. Ihr Anführer soll Salman Radujew sein, ein Schwiegersohn Dudajews. Er ist eine Figur, die bisher bei entscheidenden Maßnahmen nicht in Erscheinung trat und nicht zum engeren Kreis der Feldkommandeure gehörte. Aller Wahrscheinlichkeit nach folgt er nicht den Anordnungen Maschchadows. Im Gegensatz zum Oberkommandierenden braucht Dudajew den Krieg wie die Luft zum Atmen. Würden die Kampfhandlungen eingestellt, wären die Tage des Präsidenten gezählt. Offenkundig mobilisiert er jetzt den engsten, vielleicht letzten Zirkel seiner getreuen Gefolgsleute. Der Geiselnehmer von Budjonnowsk, Schamiil Bassajew, taucht im Zusammenhang mit den Ereignissen im dagestanischen Kisljar bisher nicht auf. In Interviews hatte der seither wie ein Volksheld gefeierte Bassajew Moskau wiederholt spektakuläre Vergeltungsschläge angedroht. Gleichzeitig deutete er aber an, etwas Ähnliches wie in Budjonnowsk nicht noch einmal zu unternehmen. Ein zweites Mal würde das seine Wirkung verfehlen. Demnach agieren einzelne Rebellenführer auf eigene Rechnung.

Fragen müssen sich auch die russischen Sicherheitskräfte gefallen lassen. Nach Angaben der russischen Aufklärung informierte sie die zuständigen Armeeinheiten in Tschetschenien schon am 23. Dezember über eine massive Konzentration von bis unter die Zähne bewaffneten Freischärlern in der Nachbarrepublik Dagestan. Entweder haben sich die Sicherheitskräfte gröbste Fahrlässigkeit zuschulden kommen lassen, wie es nicht selten in Rußland der Fall ist, oder bestimmte Zirkel in der Armee nehmen ein erneutes Desaster in Kauf, um ihr eigenes Süppchen zu kochen: durch das nicht endende Blutbad im Kaukasus doch noch die politische Landschaft Rußlands nachhaltig zu verändern. Die Schreckenstat wird den Tschetschenen nicht helfen, indes hat sich der Kreml abermals diskreditiert. Klaus-Helge Donath, Moskau