„Ich bleibe bis zum endgültigen Sieg hier!“

■ Der blinde Kampf gegen Phantome frustriert die russische Armee immer mehr. „Zum Sieg des Kommunismus“ wollen sie endlich ein gewaltsames Ende des Krieges

Grosny (taz) – Der Dreck und die Zerstörung in den Straßen von Grosny werden von Eis und Schnee nur dürftig verdeckt. An fast jeder Straßenkreuzung stehen Kontrollposten, mit Panzerkanonen und Maschinengewehren gerüstet. Soldaten und Angehörige der Milizeinheiten für spezielle Aufgaben (Omon), ungewaschen und mit vom Rauch geschwärzten Gesichtern, kontrollieren mit finsterer Miene Zivilfahrzeuge. Jederzeit kann aus den Ruinen ein Schuß fallen. Unter einem Panzerwagen eine Mine explodieren. Jemand eine Granate werfen. Dann schafft die russische Armee ihre toten Soldaten weg und beginnt, mit Artillerie und Hubschraubern blind umliegende Wälder und Dörfer platt zu bügeln. So geht das Tag für Tag.

Nach Aussagen ihrer Offiziere kontrolliert die russische Armee nur die Hauptstadt Grosny und den Norden der tschetschenischen Republik. „Und das auch nur am Tag“, sagt Alexander, ein junger Leutnant der inneren Truppen. „Wenn es dunkel wird, sitzen wir auf unseren Wachposten und schießen in alle Richtungen, um mit der Angst fertig zu werden.“

Unzufrieden mit der Führung sind sie alle – Soldaten, Angehörige der Omon und Offiziere. Das hat viele Gründe: schlechte Verpflegung, Mangel an warmer Kleidung, die „große Politik“.

Tote Soldaten muß die Familie selbst zurückholen

„Einen Monat haben wir in Gudermes gesessen und wären vor Hunger fast krepiert“, erzählt Jura, ein Kämpfer der Omon aus Archangelsk. „Zwei von uns wurden vor kurzem getötet. Mit der Omon haben wir für ihre Familien 40 Millionen Rubel (rund 8.500 $) gesammelt. Auf dieses Geld haben sie auch noch Steuern erhoben, und die Familien mußten die Überführung der Leichen bezahlen“, erregt sich Andrej Schiljagin, Angehöriger der Omon aus Saratow.

Sichtlich verärgert sind auch seine Kameraden, die den Kontrollpunkt am halbzerstörten Präsidentenpalast im Zentrum von Grosny bewachen. Unrasiert, in Tarnuniformen und Filzstiefeln, laufen sie unruhig hin und her und reden durcheinander. „Wir sind nicht zu den Wahlen gegangen und werden auch nicht abstimmen. Wen soll man denn wählen? Vielleicht die Moskauer Bastarde, die unsere Jungs in Gudermes ans Messer geliefert haben?“ schreit ein Omon-Mann und fuchtelt mit seiner Kalaschnikow herum. Nach Gudermes, das die Russen belagerten, schickte Moskau zunächst keine Verstärkung – offiziell, da Gefahr bestünde, die Stadt könne zerstört und Zivilisten getötet werden. Viele Offiziere glauben jedoch, daß auf einen Militärschlag verzichtet wurde, um die Wahlen im Dezember nicht zu behindern. Denn gleich danach wurde Gudermes zerstört. Viele Zivilisten kamen dabei ums Leben. Während die Omon-Leute und Offiziere die „große Politik“ beschäftigt, denken die Wehrpflichtigen nur an eins: Demobilisierung. Fast die Hälfte der in Tschetschenien stationierten Wehrpflichtigen haben bereits anderthalb Jahre gedient und hätten im Herbst entlassen werden sollen. Doch unterdessen wurde der Wehrdienst um ein halbes Jahr verlängert. Und so blieben auch die, deren Zeit schon um war. „Mit diesen Jungs werden wir wohl noch Probleme bekommen“, sagt ein Major. Er kommandiert ein Bataillon, das zu einem Drittel aus solchen Soldaten besteht. „Das sind nicht einfach nur zwanzigjährige Jungen. Man hat sie getötet, und sie haben getötet. Deshalb greifen sie schon instinktiv zur Waffe.“ Nach seinen Worten verrohen die Soldaten. Sie quälen ihre jungen Kameraden, folgen nur ungern Befehlen, trinken immer häufiger und bestehlen die Bevölkerung. „Sie tun mir leid, und ich verstehe sie. Man hat sie mit 18 Jahren in den Krieg geschickt und verraten“, sagt der Major bitter. In Armeekreisen machen Geschichten von Verrat und Resignation der Führung und von Korruption der höheren Dienstgrade, die Rebellenführer Dudajew mit Waffen versorgen, die Runde. Massenhaft werden Benzin, Waffen und Uniformen an Dudajews Kämpfer verkauft. Das alles ist nicht neu, das gab es schon in Afghanistan. Neu, obgleich selten, sind Schmiergelder, die sich Offiziere dafür zahlen lassen, daß sie tschetschenische Dörfer nicht beschießen.

„Wir hätten sie in ein paar Wochen fertiggemacht“

Die Soldaten schimpfen über alles und jedes. Der Hauptgrund für ihre Unzufriedenheit ist, daß die Armee zuerst gegen ihren Willen in den Krieg hineingezogen wurde, fast tausend junge Soldaten getötet oder verstümmelt wurden und man sie dann den Krieg nicht beenden ließ. „Wir hätten nur ein paar Wochen gebraucht, um die Dudajew-Kämpfer fertigzumachen“, sagt Oleg, Kapitän der inneren Truppen. „Und plötzlich beginnen diese Friedensgespräche. Hunderte Soldaten sind gestorben, während die Politiker über Frieden redeten. Und jetzt? Heute sind Dudajews Leute wieder gut bewaffnet und kontrollieren fast die Hälfte von Tschetschenien. Das ist doch Verrat.“ Oleg ist schon zweimal verletzt worden, will aber in Tschetschenien bleiben, „bis zum endgültigen Sieg“. Bei den Wahlen hat er für Schirinowskis Partei gestimmt – „der hat versprochen, wir werden für jeden getöteten russischen Soldaten ein tschetschenisches Dorf mit Napalm niederbrennen“, sagt Oleg.

Moskau hat jetzt altgediente Soldaten in Tschetschenien gegen neue Kräfte ausgetauscht. Die achte Einheit ist gut vorbereitet. Vor einem Jahr stürmte sie Grosny, und viele Soldaten warten nur darauf, sich für die getöteten Kameraden rächen zu können. Den Austausch werten russische Politologen als Hauptmerkmal für eine Änderung der russischen Tschetschenienpolitik. Die Ablösung von General Anatoli Schirko kommentierte die Iswestija als Versuch Moskaus, das Problem in erster Linie mit Gewalt zu lösen.

Durch die Straßen Grosnys quälen sich Mannschaftswagen und Panzer. Fast auf jedem zweiten prangt die Aufschrift „Vorwärts, zum Sieg des Kommunismus!“ „Die Sowjetunion war eine Großmacht. Alle haben sie gefürchtet und geachtet – und wir werden sie wiedererrichten“, schreit ein Soldat, bevor ein Schuß seine Stimme übertönt. Maxim Korschow

Übersetzung: Barbara Oertl