Gespenstisches Schmerzenswerk

■ In der Glocke holte GMD Günther Neuhold aus dem Orchester eine wuchtige Bartók-Interpretation heraus / Perfekte Tutti

Das jüngste Philharmonische Konzert brachte zwei Komponisten auf dem Programmzettel zusammen, deren Schicksal auf unterschiedliche Weise mit dem Nazi-Regime verbunden ist. Erwin Schulhoffs 1923 entstandenes Klavierkonzert wurde als „entartete Musik“ gebrandmarkt. Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ entstand 1943 im Exil in Amerika, nachdem er drei Jahre lang nicht mehr komponiert hatte.

Daß in der Glocke lichte Reihen zu verzeichnen waren, hängt möglicherweise mit der Unbekanntheit Erwin Schulhoffs zusammen und wohl auch mit der Einordnung von Béla Bartóks Werk als Neuer Musik. Dabei zählt dessen Spätwerk „zu den schönsten Geschenken der Zuversicht, welche die Musik unserer Zeit hervorgebracht hat“ (so der Dirigent Ernest Ansermet). Verdient war der schwache Besuch nicht, denn wieder einmal gelang es dem neuen Bremer Generalmusikdirektor Günther Neuhold, aus dem Orchester bislang Ungehörtes und auch Ungeahntes hervorzuholen. Neuhold verfügt über eine Dirigiertechnik und eine Spannung der Körpersprache, die in der Vielseitigkeit ihrer Angaben und ihrer Suggestivität die Musik aus den SpielerInnen geradezu herauspreßt.

Neuhold hat die Fähigkeit, eine vielschichtige und komplizierte Schreibweise überzeugend deutlich zu machen: Bartóks vierzigminütiges Schmerzenswerk erklang mit der notwendigen Wucht der Rhythmen und seinen Überlagerungen, auch seinen abrupten und unerwarteten Wechseln. Es erklang mit einem Mut zur Klangfarbengestaltung, die häufig gar nicht mehr erkennen ließ, um welches Instrument es sich handelt, so fahl, so gespenstisch, so ironisch klangen die entsprechenden Partien.

Sicher muß man über den biographischen Hintergrund des Werkes einiges wissen, um beispielsweise im vierten Satz die abrupte Unterbrechung der populären Operettenmelodie „Schön bist Du, Ungarn, wunderschön“ als das Geräusch von „Stiefelträgern“ – wie Bartók selbst sagte – zu verstehen. Oder um die verschiedenen osteuropäischen Volkmusikzitate im letzten Satz als eine gewaltige positive Utopie zu erleben. Aber die Aufführung hatte an sich Qualität und Kraft genug, um Bartóks „Fresko des Lebens“ (György Kroó) zu entfalten.

Erwin Schulhoffs Werk ist typisch für die stilistische Wirrnis der zwanziger Jahre: Klangfarben aus dem Impressionismus und Rhythmusadaptionen aus dem Jazz, neoklassizistische Sachlichkeit und Auflösung der Tonalität bilden die Grundlage für das solide Werk, in dem die Elemente zu einer ganz persönlichen Musiksprache verbunden werden und das – mit einigem guten Willen – als ein Repertoiregewinn bezeichnet werden kann. Viele pianistische Raffinessen zeugen vom Praktiker: Schulhoff war auch Pianist. Die Wienerin Emma Schmidt spielte ihren Solopart vehement, aber sowohl hinsichtlich der rhythmischen Schlagkraft als auch der Klangfarben blieben noch Wünsche offen. Und ein kleine Einschränkung auch fürs Orchester: So perfekt die Tutti inzwischen klingen, so sehr ist an wirklicher Transparenz kammermusikalischer Teile noch zu arbeiten.

Ute Schalz-Laurenze